Im letzten Jahr hatte ich eine cinematographische Offenbarung. Die hieß "
Chungking Express" und stammte vom Hongkong-Chinesen
Wong Kar-Wai. Als ich kurze Zeit später auch noch sein Video zu DJ Shadows "Six days" (QT-Stream,
Breitband,
Modem) gesehen hatte,
war es endgültig um mich geschehen.
"Chungking Express" war 1994 eine kleine Fingerübung während er "Ashes of Times" drehte. "Days being wild" wurde drei Jahre vorher, 1991, abgedreht, Wong Kar Wais zweiter Spielfilm.
Der Film spielt 1960 in Hongkong. Zwei Konstanten durchziehen den Film: eine schwüle Hitze und Nostalgia. Im Film herrschen pastellgrüne Farbtöne vor, wie eine vergilbte Erinnerung an vergangenen Zeiten. Keine Erinnerung die man mit der gesamten Familie im Fotoalbum nachschlägt, sondern intimer, ein leiser Film, als wäre es die eigene Erinnerung in der man gerade schwelgt. Personen, ihre Gesichter, stehen im Mittelpunkt. Bei Dialogen vermeidet Kar-Wai den schnellen Rythmus aus Schnitt, Gegenschnitt, ruht stattdessen auf einem Gesicht. Selten das im Bildausschnitt zwei Personen gleichzeitig zu sehen sind. Sämtliche im Film vorkommenden Totalen lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen.
Dies muss man als Beschreibung vorweg setzen um ein Gefühl für den einzigartigen Erzählrythmus von Wong Kar-Wai zu bekommen. Kar-Wai erzählt eigentlich keine Geschichten, sondern Ausschnitte eines Lebens. Obwohl die Handlung als Nebensache behandelt wird, steht sie durch die Handlungsträger, die Personen, im Mittelpunkt. Es gibt keine Nebenstränge, nichts überflüssiges.
Der Film beginnt am Tresen einer verlassenen Kneipe. York kommt rein und kauft bei So eine Cola.
York: "What's your name?". Die Uhr über dem Tresen zeigt fünfzehn Uhr an.
So gibt das Wechselgeld zurück "Why'd I tell you?" und geht leere Flaschen einräumen.
York drückt die Zigarette aus, lehnt sich an einer Säule "I've already known it -- you're named So Lai-chun"
So guckt erstaunt, eilt zu ihm hin: "Who told you that?"
York guckt sie an, grinst und geht wortlos weg. So schaut ihm nach, will etwas hinterher rufen aber schweigt dann doch. York nähert sich wieder So, spricht ihr von hinten über die Schulter: "You'll see me tonight in your dream" und geht weg. So schaut mit offenen Mund hinterher.
Musik setzt ein, Vorspann läuft.
Die Uhr über dem Tresen zeigt fünf vor drei, So stützt ihren Kopf mit dem rechten Arm auf dem Tresen ab und liest eine Illustrierte. Sie hört Schritte und vertieft sich in die Illustrierte. York kommt rein, legt zügigen Schrittes seine Tasche ab und geht zur Kühltruhe um sich eine Cola-Flasche herauszuholen. Er öffnet die Flasche, geht zum Tresen und legt Geld hin. So blickt nicht auf, starrt krampfhaft in die Illustrierte. Nach einer Weile nimmt sie das Geld, geht zur Kasse und legt das Wechselgeld hin. Sie beugt sich wieder über ihre Illustrierte, sieht aber York an.
"I didn't see you in my dream last night"
York wartet. "Of course. You haven't slept at all. It's useless! You'll see me, for sure." Er grinst, nimmt die Flasche und geht weg. So ist verdutzt.
Schnitt. Die Uhr zeigt eins vor vier. So hat ihren kopf auf ihre Arme gelegt, träumt, lächelt.
Schnitt. York kommt, legt seine Tasche ab. So putzt die Regale. York sieht ihr neues Kleid. "You look something special today". "What? Nothing special." "Nothing? -- Why do you have red ears?"
So hält inne, geht zu ihm hin: "What do you want?"
York: "I just want to make friends with you". "Why should I?".
York geht um So herum. "Look at my watch!" "Why should I?" "Just one minute, okay?" So lehnt sich gegen den Tresen und schaut sich intensiv die Armbanduhr von York an. Die laut tickende Uhr über dem Tresen zeigt die letzten Sekunden vor drei Uhr.
So: "Time's up, speak now". York guckt in die Ferne: "Today is..." "16th" "16th, April 16th -- April 16, 1960... one minute before 3 pm... you are with me. Because of you, I'll remember that one minute. From now on, we're friends of one minute. This is fact, you can't deny it. Cause it's past." Pause. "I'll come tomorrow." Er neigt sich zu ihr hin, sie hält ihren Mund hin, York greift aber zur abgelegten Tasche und geht.
So, aus dem Off: "Haven't he remeber that minute for me? ... I don't know ..." Sie schaut ihm hinterher "But i've memorized this guy... Later on, he did come everyday. We became friends, started from that minute... to 2 minutes... Later, we dated at least an hour a day... " Man sieht beide umschlungen, im Bett liegend.
Und aus den Stunden werden Tagen. Aber als So sagt dass sie eine feste Bindung will, schmeisst York sie raus. York will ohne feste Beziehung bleiben. Seine Stiefmutter ist eine alte Konkubine die sich von reichen Männern aushalten lässt. York hat keinen Respekt für die Alkoholikerin und die Stiefmutter wiederum weigert sich York den Namen seiner richtigen Mutter zu nennen.
York lernt per Zufall ein neues Mädchen kennen, Mimi, während So versucht zurück zu kommen. York weigert sich So wieder reinzulassen. Für So bricht eine Welt zusammen. Ein zufällig vorbeikommender Polizist versucht sie zu trösten. Man trifft sich ein, zweimal. So begleitet ihn, während er seine Streife durch das nächtliche Hongkong machen muss. Man trennt sich. Der Polizist sagt, dass er jeden Tag um Mitternacht an der Telefonzelle vorbeikommen würde. Wenn So Lust hat, könne sie ihn dort anrufen. So ruft nie an.
Auch Mimi würde gerne eine feste Beziehung mit York eingehen, Aber jedesmal wenn Mimi versucht die Beziehung zu festigen, zieht sich York zurück oder versucht Mimi zu erniedrigen.
Als die Pflegemutter mit einem Lover nach Amerika auswandern will, beschließt York wegzugehen. Er fordert die Briefe seiner Mutter ein und erfährt, dass diese auf den Phillipinen lebt. York hat eh kein richtiges Leben in Hongkong. Er verläßt die Stadt um seine Mutter zu suchen.
Mimi bleibt ratlos zurück.
Der Besuch auf den Phillipinen wird für York zum Reinfall. Die Mutter weigert sich York zu sehen. York lebt nun endgültig in den Tag hinein. Wird ausgeraubt und erschiesst beim Versuch einen gefälschten Pass zu bekommen, einen Hehler. Sein einziger Freund ist eine Zufallsbekanntschaft die im selben Hotel wohnt: der Polizist aus Hongkong. Nachdem So nie angerufen hat, beschloß er seinen Traum zu verwirklichen und fremde Länder zu sehen. Als Seemann.
Der Film endet mit York, der Verletzungen einer Schiesserei im Zug erliegt und mit dem Polizisten/Matrosen, der nach Hongkong zurückkehrt und seinen Lebensunterhalt als Gigolo verdient.
Der Film greift überdeutlich Motive von Wong Kar-Wais eigenem Leben auf. Seine Familie wurde durch die Kulturrevolution und der Schließung der Grenzen getrennt. Er lebte mit seiner Mutter in Hongkong, in einer völlig fremden Welt und brauchte Jahre bis er sich integrierte. Personen und Szenerien sollen an Kar-Wais damaliger Umgebung angelehnt sein.
Ursprünglich war der Film als Zweiteiler gedacht, aber Investoren sprangen ab und so wurde die nur mäßig fertige Episode auf den Phillipinen noch reingeschnitten.
Ähnlich wie bei "Chungking Express" kann mich der Film nicht als Ganzes überzeugen, aber die Teile die es tun, berühren mich. Wenn die Schlußszene der Abgang des Polizisten und dem Bild der Telefonzelle gewesen wäre, nach knapp einer Stunde, der Film wäre grandios und rund gewesen. So wirkt aber die ganze Phillipinen-Episode wie ein merkwürdiger, nie völlig aufgelöster Zusatz.
Schauspieler, Photographie, Dialoge und Musik (teils Django-Reinhardt-Gitarren-Jazz, teils Mambo-Musik) sind teilweise so phantastisch, dass ich dahinschmachte, weswegen ich die Eingangsszene auch derart ausführlich geschildert habe. Wenn es einen Regisseur gibt, der hinreissende Liebesgeschichten drehen kann, dann ist es Wong Kar-Wai. nach seinen Filmen darf man mich erstmal eine Studne lang nicht anfassen und nicht anquatschen.