hundeleben [06] -- NullVier

Keine Ahnung was mich bewogen hat zuzugreifen, als mir kurzfristig günstig 'ne Karte für das Lokalderby angeboten wurde. Es war erstmal was aus dem Bauch heraus, einfach um mal was anderes als den üblichen Freitagsabend-Trott zu haben. Ich habe mir nicht viel vom Spiel erwarten. Pauli hat in den letzten Wochen grottenschlecht gespielt, war quasi abgestiegen, und der HSV besteht derzeit zur Hälfte aus Arschlöchern und stümpert sich so in dem Bundesliga-Mittelfeld durch.
Auch auf dem Weg dahin, war ich nicht "heiß". "Nur" neugierig. Lag vielleicht auch am Wetter. Seit dem Mittag dieselte es vor sich hin. Nun gut, es wurde Abend. Freitag abend, inzwischen ja leider ein ungewöhnlicher Fußball-Termin für Bundesliga-Spiele. Die AOL-Arena, die hier zukünftig nur unter ihrem richtigen Namen "Volksparkstadion" erwähnt wird, ist knapp einen Fußmarsch von einer Stunde von mir entfernt. Bus oder U-/S-Bahn nehmen, ist nicht der Bringer, da man zum einen von der Station "Stellingen" eh 20 Minuten zum Stadion läuft, und zum anderen man entweder riesige, und damit lange Umwege fahren muss, oder auf den 22-er-Bus angewiesen ist, der auch nur alle 20Minuten fährt... Und wenn es nicht sein muss, benütze ich aus Prinzip keine nur alle 20 Minuten fahrenden Busse. Und sein muss, muss es nur wenn ich zu IKEA fahre...
Ich kenne die Fußstrecke, da ich früher zu den Heimspielen der Blue Devils (Football) mit Rad oder zu Fuß gefahren bin. Das ist aber auch schon etwas länger her. Zuletzt bin ich vor ca. 2 Jahren dort gewesen, beim EuroBowl-Endspiel. Die Betonschüssel des "neuen" Volkspark hielt ich damals für fertiggestellt (ich täuschte mich), nur das Dach fehlte.
Zum Volksparkstadion geht es ungefähr eine Viertelstunde lang durch ein kleines Industrieviertel in Lokstedt, an Beiersdorf vorbei, hinter den Hochhäuser der Lutterothstrasse eine Viertelstunde durch kleine Mehrfamilienhäuser in Eimsbüttel und dann eine Viertelstunde parallel zur Bahn durch ein menschenleeres Gewerbegebiet in Langenfelde. Dann ist man an der S-Bahn-Haltestelle "Stellingen" eingetroffen. Und nach einem eher einsamen Spaziergang, treffen hier die Menschenströme aus der S-Bahn und den Bussen zusammen. Wurstbuden sind aufgestellt, es wird gegröhlt und gelacht, und überall Polizisten. Kaum noch ein Vorwärtskommen. HSV-Fans in Überzahl.
Pauli-Fans nennen das Volksparkstadion abschätzig "das Stadion an der Müllverbrennungsanlage". Von der S-Bahn-Station zum Stadion sind es noch ca. 20 Minuten einen kurvigen Fußweg rauf, vorbei an einer Müllverbrennungsanlage und dem UPS-Hub in Hamburg. Alle 50m steht ein Mann am Seitenrand und pisst sich das überschüssige Bier von der Seele. Ich gehe schneller als die anderen, arbeite mich nach vorne, und treffe auf immer mehr St.Pauli-Fans.
Dann trennen sich die Wege, je nachdem in welche Kurve man geht. Und dann stand sie plötzlich vor mir, die fertiggebaute Volksparkschüssel. Wie auf ein Sockel stehend, Beton mit blauen Beleuchtung. Ein ziemlicher Klotz, kein Vergleich mit dem flacheren und weitläufigeren alten Volksparkstadion. Gleichzeitig aber wegen der leichten Dachaufhängung auch wesentlich eleganter wirkend.
AOL-Arena / Volksparkstadion
AOL-Arena/Volksparkstadion, nach Spielende
Das Volksparkstadion ist auch innen sehr luftig, aber auch karg. Unverschalter Beton, mit einigen Ständen für Fan-Artikel, Würstchen, Bier etc... Aber ehe man sich versieht, ist man schon "draussen", also "drinnen" im Stadioninneren.
Und es haut einen von den Socken. Es ist alles irre intensiv. Alles ist auf einmal so nah, so kompakt. Man meint den HSV-Fans auf der Haupttribühne ohrfeigen zu können, den Spielern auf dem Rasen auf die Schuhe spucken zu können. Man meint die Atmosphäre greifen zu können. Wow. Kein Vergleich zum EuroBowl vor zwei Jahren.
Der Block auf der Gegengerade, nahe der Mittelinie, war zwar gemischt, aber eher in Paulis Händen. Zur Linken die Kurve mit den HSV-Hools (prompt doppelt so viele Ordner), zur Rechten die Pauli-Fans, und Gegenüber die Haupttribühne mit den VIP-Logen. Den HSV-Fans fällt kein besseres Transparent ein, als ein riesiges weisses, mit schwarzen Lettern: "H-A-S-S".
St.Pauli-Kurve
St.Pauli-Kurve, ca. 20 Minuten vor dem Spiel, voll mit Bannern
 
St.Pauli-Banner
Zwischen Hammer und Sichel: "Die letzte Schlacht gewinnen wir", drüber: "Glaube - Liebe - Hoffnung"
 
St.Pauli-Kogge
"FC St.Pauli gibt sich die Ehre, Herrscher Hamburgs und der sieben Meere" -- Kurz vor Anpfiff wurden die Banner weggenommen, und ein Transparent wurde sichtbar, dazu wurde eine Pappkogge aufgefahren, und "Augsburger Puppenkiste"-like blaue Folie als Meer-Ersatz ausgerollt.
Die Mannschaften wurden vorgestellt, und plötzlich standen sie dann auch auf dem Platz. Barbarez/HSV war gelbgesperrt. Laut ausliegendem St.Pauli-Stadion-Magazin, ein Provokateur erster Güte, hatte er doch im Hinspiel das Shirt von Marinus Bester unter seinem Trikot gehabt. Bester, auch als PREMIERE-Reporter bekannt, hat in seiner Zeit als HSV-Profi wohl einige Anti-Pauli-Sprüche losgelassen. Aber Anheizer Number One war diesmal Thomas Meggle, die "andere" Nummer Zehn. Unter der Woche ließ er verlauten daß Pauli den HSV überall schlagen würde, wenn es sein muß auch auf dem Mond.
Spielfeld
"Zwischen Münzwurf und Anpfiff
Der bei den Fans überaus beliebte Meggle, hatte nach knapp zehn Minuten die Chance selber "Fuß anzulegen" an der Niederlage des HSVs. Elfmeter für Pauli.
Elfmeter
Meggle tritt zum Elfmeter an
Meggle macht eigentlich einen guten, plazierten Elfmeter, aber Pickenhagen hält. St.Pauli brach dann in sich zusammen. Selten gelangen Kombinationen. Da der HSV nun auch nicht brilliant spielte, wurde es nicht nur eine einseitige, sondern auch eine schwache Partie. Bei allen vier HSV-Toren habe ich 5 Sekunden vorher aufgestöhnt, da jedesmal der spätere Torschütze sich von seinem Bewacher losgelöst hatte, und völlig frei stand.
Das Spiel live wirkt anders als im Fernseher. Sehr viel kompakter, als das durch Weitwinkelobjektive verzerrte Fernsehbild. Und wenn der Fernsehkommentator meint, dass die Spieler alle sich zwanzig Meter links und rechts der Mittellinie zusammenklumpen, dann wird einem erst vor Ort bewusst, wie eng das wirklich ist. Quasi auf jedem Quadratmeter ein Spieler.
Auffällig auch Referee Merk. Der kleine Zwerg mit der Fistelstimme kommt "live" viel autoritärer rüber, als im Fernsehen. Alles nur durch die Art wie er pfeifft, wie er zu den Spielern hingeht, sich bewegt, gestikuliert. War so ziemlich der beeindruckenste Mann der 23 Anwesenden.
Ich habe im Laufe der Saison einige Aufstellungen von Demuth nicht verstanden. Ich hielt grosse Stücke auf Rahn und Inceman. Nun mehr verstand ich. Sie haben desaströs gespielt.
Die Anzeigentafel im Millerntorstadion, ist die einzige Bundesliga-Anzeigentafel die noch per Hand betrieben wird. Um das Millerntor-Feeling zu bekommen, wurde diese manuelle Anzeigetafel auf der elektronischen abgebildet. Zur Halbzeit stand dort ein 0:2. Einige Minuten später: 0:4.
Es wäre nun übertrieben zu sagen dass die Pauli-Fans es locker genommen hätten, aber den HSV-Fans waren sie immer noch nicht nur geistig überlegen. Auf ein stupides "Ihr steigt ab! Ihr steigt ab!" antworteten Pauli-Fans dem dreizehntplaziertem HSV: "Wer wird Deutscher Meister? Hah-hah-hah-es-vau", jener legendären Volksweise von Tony Holiday aus den Achtzigern, als "Ernschtl" und die Rothosen von Sieg zu Sieg eilten.
Und alle die für mindestens 15 Cent Fussball im Blut hatten, mussten ganz, ganz schwer schlucken, als die Pauli-Fans in den letzten drei Spielminuten anfingen "You'll never walk alone" zu singen, und nach Spielende mit "St.Pauli, St.Pauli"-Sprechchören die Spieler zu sich in die Ecke baten.
Ich bin rechtzeitig nachhause gekommen um noch das Ende des Spielberichtes auf SAT.1 zu sehen, inklusive dem Interview mit Thomas Meggle. Der Mann dürfte sich endgültig einen Platz in den Annalen des Vereins erorbert haben, als er mit verheulten Augen und tränenerstickter Stimme davon sprach, wie sehr er sich geschämt hat, dass er den Elfmeter verschossen hat, und dass er Schuld an der Niederlage trüge.
Helden erkennt man erst in der Niederlage.
Loser
Verlierer