wortAuf [07] -- SiegHeil
19h40: Ich sehe gerade TV5, mit eine Live-Sendung zum ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen. In den Großstädten haben die Wahllokale noch bis 20h offen, daher dürfen die Fernsehstationen keine Prognose veröffentlichen, aber sie sagen bereits dass es eine Riesenüberraschung geben wird. Man wird sehen ob's stimmt, oder ob es nur ein Zuschauerköder ist. Beim Rundgang durch die 16 Wahlpartys der Spitzenkandidaten scheint so ein bißchen deutlich zu werden, daß die Grünen unter 5% bleiben könnten, und dass Jospin weniger als erwartet, und Le Pen möglicherweise mehr als erwartet bekommt. Hauptnachricht momentan, ist die Wahlbeteiligung, die die niedrigste aller Zeiten ist, mit 71,5%.
19h51: Das Anheizen geht weiter. Auf France 2, dem Sender dessen Berichterstattung TV5 heute abend übernimmt, deutet der Moderator immer deutlicher eine Überraschung an, und immer stärker deutet man ein Riesenergebnis von Le Pen an. Das Hauptthema des Wahlkampfes wurde von Jacques Chirac vorgegeben: Innere Sicherheit. Und es könnte Le Pen in die Hände gespielt haben, trotz Spaltung der Rechtsextremen zwischen Le Pen und Mégret.
Ein gutes Wahlergebnis von Le Pen kann insofern eine Rolle für den 2ten Wahlkampf spielen, weil dann ein Buhlen um die Wähler stattfindet, ein Buhlen um eine Aussage von Le Pen, dass seine Wähler doch bitte den Kandidaten X oder Y wählen sollen.
19h56: Die Schaltungen zwischen den Wahlpartys wird immer schneller. Le Pen bereitet eine Erklärung bereits für ganz kurz nach 20 Uhr vor.
20h00: UNGLAUBLICH! Jospin nur auf dem dritten Platz, und wenn sich das bewahrheitet, wird es einen 2ten Wahlgang zwischen Chirac und Le Pen geben! Kein Linker, kein Jospin! Chirac 20%, Le Pen 17%, Jospin 16%.
20h04: Wütende Reaktionen auf der Wahlparty von Jospin, auch Tränen.
20h06: Der Videotext von TV5 macht es deutlich, anscheinend hat das Schweizer Fernsehen bereits um 19h30 die Wahlprognosen veröffentlicht. Erstaunlich ist, dass kein anderer Kandidat über 7% kommt.
Wie gravierend wäre es, wenn ein Le Pen neben Chirac in die Stichwahl in 14 Tagen einzieht? Ich weiss es nicht, denn eines haben die letzten Jahre der Kohabitation gezeigt: der Staatspräsident ist zwar, verglichen mit Deutschland, mehr als ein Frühstücksdirektor. Aber innenpolitisch ist es das Parlament, bzw. die Regierung, bzw. der Premierminister der die Schlagzahl angibt. Ein Le Pen im zweiten Wahlgang wird bei den in einem Monat anstehenden Parlamentswahlen möglicherweise ein "Backlash" erzeugen, und die linken Wähler an die Urnen treiben, und für 5 weitere Jahre der Kohabitation sorgen.
Wenn es denn so einfach wäre... Wer soll denn Spitzenkandidat bei den Sozialisten werden? Jospin dürfte mit diesem Wahlergebnis "verbrannt" sein. François Hollande (Parteivorsitzender) dürfte nicht massenattraktiv sein, und der Machtpolitiker Laurent Fabius (Ex-Premierminister, aktuell Wirtschaftsminister) könnte vielen Franzosen zu "abgefuckt" erscheinen.
20h23: Ein Sprecher von Le Pen im Fernsehstudio deutet den Kurs der Wahlkampagne von Le Pen in den nächsten zwei Wochen an: alle Proteststimmen die sich bei den Trotzkisten, Zentristen, Jagd- und Naturpartei und rechten Ökologen angesammelt haben, aufsammeln. Wird spannend, denn keiner weiss derzeit wie sich die linken Wähler verhalten werden. Wenn die im 2ten Wahlgang nicht wählen gehen, ist alles möglich.
20h26: Ein Sprecher vom Zentristen Chevènement weist zu Recht darauf hin, dass dieses Wahlergebnis auch eine schallende Ohrfeige für Journalisten ist, die seit Wochen von einem Duell zwischen Chirac und Jospin ausgingen.
Ich wundere mich, dass bei den Prognosen keine Fehlerquote genannt wird. Der Abstand zwischen Jospin und Le Pen ist, je nach Prognose, zwischen 1 und 1,9% gross. Kann vielleicht noch im Laufe des Abends kippen.
20h30: Analyse des Meinungsforschungsinstitut. Die meisten haben Le Pen gewählt, weil sie einen Wechsel wollten, weil Le Pen nahe an den Franzosen ist, und weil er die Franzosen bewegende Themen aufgreift. Der Analyst meint das zwar seit 14 Tagen Le Pen stetig am Wachsen gewesen sei, aber erst am Freitag morgen sei es dem Institut bewusst gewesen, dass man nicht komplett einen Einzug von Le Pen in den zweiten Wahlgang ausschliessen könnte. Und erst am Samstag hat man geahnt, was sich heute abzeichnet.
20h40: Dominique Strauss-Kahn, Vetreter der Sozialisten im Studio, einflußreicher Politiker, derzeit wegen versch. Affären außer Gefecht, äussert sich als erster Politiker zum zweiten Wahlgang: er persönlich werde, um eine Schande Frankreichs abzuwenden, in zwei Wochen für Chirac stimmen.
20h45: Der Grünen-Vertreter sieht das Ende der sog. "Fünften Republik" kommen, und verlangt eine umfassende Umgestaltung der Verfassungsorgane, inklusive Verankerung von Volksabstimmung. Aus Bordeaux wird der Bürgermeister Alain Juppé hinzugeschaltet. Juppé ist ein enger Vertrauter von Chirac, und Vorgänger von Jospin als Premierminister. Juppé weist daraufhin dass Frankreich ein tiefersitzendes Problem hat, wenn, Le Pen und Méegret zusammengenommen 20% der Stimmen auf die extreme Rechte vereinen, und ein Haufen von Trotzkisten-Kandidaten 15% auf der extremen Linken vereinen.
20h58: Laurent Fabius kommt ins Studio. Er erklärt das in vierzehn Tagen die Wahl zwischen der Republik und der Extremen Rechten besteht, und er deswegen für Chirac stimmen wird.
Die Wahlprognosen werden leicht verändert, eher zum schlechteren. Chirac nun bei 19,8%, Le Pen bei 17,2% und Jospin bei 15,9%. Unterdessen wurden auf Hauptquartier der Sozialisten alle Kamerateams hinausgeschmissen.
21h43: Das Meinungsforschungsinstitut Ipsos legt eine erste Umfrage vor, zwischen 20h und 21h getätigt, die für den zweiten Wahlgang einen Sieg von Chirac mit 80% vorhersieht. Der Vertreter der Le Pen'schen "Front National" sagt nicht zu Unrecht, dass die Umfrage wohl mehr ein Gag ist, als seriös.
21h57: Nachdem der Grünen-Kandidat Mamère zum Widerstand gegen die Front National und zu Demonstrationen am 1. Mai aufgerufen hat, meldet sich Jean-Marie Le Pen, mit seiner Siegesrede. Er eröffnet seine Ansprache mit den gleichen Worten die auch Papst Johannes-Paul II. bei seiner Wahl gesagt haben soll, singemäss: "Fürchtet euch nicht, das Zeitalter der Hoffnung ist angebrochen" und ruft anschliessend seinerzeit zu einer 1.Mai-Demo auf dem Place d'Opéra in Paris auf.
Le Pen
22h20: Premierminister Lionel Jospin spricht endlich. Er verliert kein Wort über das Verhalten im zweiten Wahlgang, aber er kündigt seinen Rückzug aus dem politischen Leben in 15 Tagen an.
Lionel Jospin
22h32: Chirac startet seine Rede im Wahlkampfzentrum der RPR. Er wählt die "stattsmännische" Schiene, ganz der gütige Staatsvater, der versucht alle zu vereinen. Seine Rede bleibt etwas kraftlos, nicht zuletzt, weil es im Hauptquartier auch relativ leer geworden ist. Er bekommt dünnen Applaus. Die meisten Anhänger sind sich inzwischen darüber im Klaren dass heute nicht Chirac die Schlagzeilen geschrieben hat, und haben sich verzogen.
22h44: Neue Prognose: Jospin klettert auf 16,3%, das Meinungsforschungsinstitut glaubt aber nicht das Jospin wird noch die 0,9% Rückstand im Laufe des Abends aufholen können. Hmm. Auf der anderen Seite hat Jospin in der letrzten Stunde 0,4% aufgeholt. Bin mal gespannt, ob sich die Medien nicht noch bis aufs Bein blamieren. Auf dem Place de Bastille kommt es zu einer spontanen Anti-Le-Pen-Demo von mehreren hundert Leuten, man rechnet aber bis Mitternacht noch mit mehr Zulauf. Weitere Demos finden in Grenoble und Toulouse statt.
22h58: Die Demos nehmen weiter zu, eine weitere mit ca. 1000 Leuten in Paris in der Nähe der Sorbonne. Viele Linke nehmen als Motto "Halte aux faschisme".
23h01: Ein kommunistischer Bürgermeister aus einer Pariser Vorstadt warnt, das man den zweiten Wahlgang nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte. Er wird Chirac wählen, damit es in vierzehn Tagen nicht wieder ein böses Erwachen gibt.
23h10: Eine Demonstration wird auch aus Strassburg gemeldet, ferner haben zwei Polizeigewerkschaften Aktionen angekündigt. Es zeichnet sich ab, dass eine der Hochburgen von Le Pen der Osten Frankreichs ist, nahe der deutschen Grenze, mit teilweise 30% der Stimmen für die beiden rechtsextremen Kandidaten. Auch im Südwesten, nahe Bordeaux hat Le Pen einige gute Resultate bekommen.
Sensation in Lille, im Norden Frankreichs, der roten Hochburg par-exellence, in dessen Department Jospin auch nur auf den dritten Platz kommt, stattdessen führt Le Pen die Wahlen an. Aus Marseille und umliegenden Kommunen meldet man ebenfalls einen starken Anstieg von Le Pen, mit teilweise 40%.
23h22: Schlagzeile des Boulevardblatts "Le Parisien": "Le choc".
Boulevardblatt "Le Parisien"
23h28: Interview mit Le Pen, der sich wesentlich angriffslustiger als in seiner Rede anhört, und Chirac als einer der korruptesten Politiker Frankreich bezeichnet. Er scheint alles dranzusetzen, einen Konfrontationskurs zu fahren. Sein ruppiger Stil im Fernsehen ist nicht unpopulär beim Volk.
Aus Lyon wird gemeldet dass die kommunistische Vorstädte eine extrem niedrige Wahlbeteiligung hatten, und quasi komplett in die Hände von Le Pen gefallen sind. Gute Nachrichten aus der Bretagne wo Le Pen zwar zugewonnen hat, aber nur bei ca. 10% steht. Weitere Demos aus Dijon, Lyon, Nantes und Montpellier wird gemeldet. In Paris ist Demo an der Neuen Oper inzwischen auf tausend angewachsen, und hat den Place de la Bastille lahmgelegt und wird demnächst zum Place de la République weiterziehen, wo man auf eine weitere Demo treffen wird.
0h00: Die Pressesprecherin von Jacques Chirac bestätigt dass es ein Fernsehduell zwischen Chirac und Le Pen geben wird, weil es "republikanische Tradition" ist.
Linke Zeitung "Liberation"
0h05: TV5 klinkt sich aus der Berichterstattung von France 2 aus, um eine Art "Presseclub" zu bringen, mit verschiedenen ausländischen und französischen Journalisten, sowie den frisch hereingefaxten Titelseiten einiger französischer Zeitungen.
Rechte Zeitung "Le Figaro": Das Erdbeben
Ein Journalist des Nachrichtenmagazin "Le point" macht eine entscheidende Bemerkung: Das Wahlergenis ist eine schallende Ohrfeige für die Meinungsforschung und für die Medien, die das Phänomen Le Pen so haben nicht kommen sehen. Zur Erinnerung: Le Pen ist vor vierzehn Tagen nur sehr knapp in den ersten Wahlgang gekommen, da er erst spät die 500 "Paten"-Unterschriften zusammenbekommen hatte. Der Journalist, und später der brilliante Politologe Olivier Duhamel, legen den Finger in die Wunde: wie kann es sein dass die Medien, die sowas wie das gesellschaftliche Frühwarnsystem sein sollten, den Wahlverlauf nicht geahnt haben, stattdessen im Vorfelde von einem langweiligen Wahlkampf gesprochen haben, von Jospin und Chirac als Selbstgänger gesprochen haben. Was sind das für Medien die sich derartig vom Volk entfernt haben?
Boulevardblatt "France Soir": Die Bombe Le Pen
Kommunistische "Humanité": Frankreich hat es nicht verdient.