[11h55] Seit Tagen braucht man nur einige Schritte vor die Haustür zu setzen, es braucht noch nicht einmal die eigene Haustür zu sein, da vereist es einem alle an der Hautoberfläche befindliche Nerven. Der Blick fällt auf den klaren, hellblauen Himmel und die hellen neoklassizistischen Häuserfronten die gelblich von der in meinem Rücken befindlichen Wintersonne angestrahlt werden.
Um halb neun sind bereits nahezu alle pseudoholzfurnierten
Resopal-Tische von „
Dat Backhus“ besetzt. Es sind eher trübe Gestalten die eine kleine weiße Tasse und einen weißen Teller mit Kuchenstück vor sich haben. Ich will den Retro-Style von „Dat Backhus“ nicht madig machen, obwohl er mich psychologisch back in das Elternhaus der 70er Jahre versetzt und es Erinnerungen sind, die ich nicht haben möchte. Dazu hat die Bäckerei durch ihre allmonatlichen Preisaktionen (3 Berliner = 1,80; 3 Quark-Stücken nach Wahl = 2,25) zuviel Kredit bei mir.
Die „Neue Große Bergstrasse“ macht noch einen schlafmützigen Eindruck. Ob sich das im Laufe des Tages ändern wird, weiß ich nicht. Selten habe ich ein Stück Innenstadt innerhalb von 5-10 Jahren so schnell zerfallen sehen, wie diese Fußgängerzone in Altona.
Als ich an die unterirdische Fußgängerpassage zum Bahnhof Altona komme, sehe ich oberirdisch meinen Bus wegfahren. Ich steige zum Busbahnhof hoch und staune Bauklötze.
Öffentlicher Nahverkehr scheint in Hamburg am Samstag morgen erst um neun zu beginnen. Mein „20er“, durch die Klassifizierung als „
MetroBus“ eigentlich als „wichtiger“ Bus geadelt, fährt bis um Neun
alle zwanzig Minuten. Im Zustand des Schocks stapfte ich wieder runter zur Fußgänger-Passage um in die Tiefen der S-Bahn hinabzusteigen. Donnerwetter, Schwein gehabt, „meine“
S31 würde in acht Minuten abfahren.
Im Bahnhof war es richtig mollig, zirka zwei Grad wärmer als draußen. Meine, trotz Handschuhe, steifgefrorenen Hände versuchten ihre Umklammerung des „
The Economist“ zu lösen und das Heft aufzuschlagen, so dass ich mich der Aufmacher-Story widmen konnte: der israelisch-palästinensische Konflikt aus Sicht der „einfachen“ Bürger.
Die S-Bahn wurde eingesetzt und ich stieg mit einem Mann und einer Frau in den ersten Wagen, ganz vorne zum vordersten Ausstieg hin, schon an das Umsteigen in der Sternschanze denkend. Die Heizung blies aus allen Rohren und es war angenehm.
Die S-Bahn fuhr aus dem Tunnel raus und es bot sich ein imposant blauer Himmel an, soweit das Auge über das weite, leergeräumte Bahngelände von Altona blickte, während die S-Bahn auf Stelzen in einem weiten Bogen nach Osten fuhr.
Wenn die S-Bahn in den Bahnhof Sternhanze einfährt, drängt es sich plötzlich in der vordersten Tür, weil jeder im Glaube ist, er könne die U-Bahn noch erreichen, wenn er durch geschickte Startaufstellung sich fünf Sekunden Vorteil erkauft. Ich ging aus dem Kombinationslauf „Aussteigen, Bahnsteig-Gehen, Treppen-Runtersteigen, Treppen-Raufsteigen und Treppen-Runtersteigen“ als Sieger hervor, nicht zuletzt weil ich den jugendlichen Ziegenbart-Träger neben mir auf der ersten Treppe auf den letzten Stufen zwei Meter abgenommen habe und von da an die Ideallinie für mich reklamieren konnte. Im Links-Rechts-Links-Geschlängel ist das der halbe Sieg.
Es waren noch vier Minuten bis zur U-Bahn. Auch dort strahlte die Heizung Wärme aus, als würde es um Leben und Tod gehen. Der Bus an der Hoheluft sollte erst in drei Minuten kommen. Also schmiss ich kurzfristig meine Pläne um, und beschloß statt am Nachmittag sofort meine Einkäufe zu erledigen, und zwar beim auf dem Weg liegenden Safeway.
Ein Kontrollgang durch die Kassezone zeigte dass genügend Kartons zum Mitnehmen vorhanden waren, so dass ich nicht auf Tüten angewiesen war. Meine
Cappuccino-Marke hatten sie immer noch nicht in der 500g-Dose, dafür überkam es mir nach der Kälte draußen, zum Frühstück eine Suppe zu nehmen. Kartoffelcreme-Lauch-Suppe um genau zu sein.
Der Safeway an der Hoheluftchaussee versprüht den morbiden Charme der Überalterung. Nichts in dem Supermarkt wirkt gestylt und Design. Seit Jahr und Tag fordert der unebene und schiefe Fußboden sein Blutzoll durch stolpernde Großmütterchen oder von Einkaufswagen überrollte Kleintiere.
Ich wiederstand wacker der Versuchung doch noch die Fanta Blue Berry zu kaufen und rollte mit meinem Zeug auf die ganz rechts gerade aufmachende Kasse. Die Kassierinnen waren alle wie der Supermarkt: undesignt, hemdsärmelig und in die Jahre gekommen. In den nächsten Minuten sollte ich aber erfahren wieviel Ruhe im Alter liegen kann und das eine andere Art von Coolness und Slickness zu finden ist, als
von 2m20-NBA-Hünen ausgeht.
Die Kassiererin, kleingewachsen, kastanienbraun-gefärbte Haare im Mireille-Matthieu-Topf-Look, hat noch nicht ganz Platz genommen als sie anfing den ersten Kunden, anscheinend ein Stammbesucher des Etablissements, abzufertigen. Sie kaute noch an ihrem Brötchen herum, als sie ein Produkt nach dem Einscannen in der Hand hielt und es drehte und wendete und dabei anfing leise vor sich her zu summen. Beim Kaffeeweißer fiel es ihr ein und sie fragte den Kunden, ob denn der Weißer noch dazu gehöre oder extra sei. Ist extra? Gut. Sie entschuldigte sich, stand kurz auf um irgendein Schlüssel zu holen und fing an an der Kasse storno zu tippen, was mit einem Fehlton quittiert wurde. Sie fing an zu singen, dass sie ja nicht blöd sei und nahm nun einen zweiten, umständlicheren Versuch Storno in die Kasse einzugeben. Dies mal gelang es. „Ich war wohl noch vom brötchen-kauen abgelenkt“ sagte sie zum Kunden, sprachs und nahme einen großen Schluck aus ihrem Becher Orangen-Limo. Der Becher wurde strategisch günstiger am Rand des Laufbandes gestellt, geschützt von der kleinen abgewinkelten Plexiglasscheibe auf der man das Kleingeld ablegt.
Hinter der Kasse stand schon sein längerem eine Frau, um die 50, blondierte Haare, mit Geld in der Hand, als ob sie Kleingeld wechseln wollen würde.
„
Junger Mann“, sprach mich die Kassiererin an, „
junger Mann, seien Sie doch bitte so lieb und reichen mir vier 'Tic-Tacs' rüber. Nein, die müssen da irgendwo an der Seite sein. Nein, dahinter.“ Äh, die Weißen oder die Orangenen? Die Kassierin dreht sich zur Kundin herum „
Die Orangenen oder die Weißen? ... Die Weißen! ... Ja, vier Stück. ... Danke, junger Mann, damit haben Sie eben Ihre gute Tat des Tages vollbracht. Sollte Sie heute jemand ansprechen, so können Sie ihm sagen, Sie hätten Ihre Tat schon vollbracht. Sie können ihn dann zu mir schicken.“, nahm ein Schluck Orangen-Limo, nahm die Tic-Tacs von mir im Empfang und legte sie vor mir aufs Laufband, während sie den ersten Kunden abkassierte.
Nach allen Regeln war das natürlich dreist, von wegen Vordrängeln oder so. Aber die Souveränität mit der es geschah, hatte etwas atemberaubend Freundliches. Es war wie eine Einladung in den Club der Alters-Slicken.
Ich packte meine Sachen in einen leeren Karton, als aus dem Lautsprecher die Stimme der Kassiererin klang: „Frau Hübner, bitte an Kasse 1! Frau Hübner“. Sie hatte die Durchsage gesungen.