[13h33] Zeitschriften -- Heute habe ich in der S-Bahn endlich den "
The Economist" von Mitte Januar zu Ende gelesen, der mir also knackige drei Wochen Lesestoff geliefert hat (man vergleiche das mit der c't, die ich inzwischen locker in einem durchschnittlichen Badewannenaufenthalt durchlesen kann, ohne schrumpelige Haut zu bekommen).
Eigentlich bin ich vom "The Economist" derart begeistert, dass ich mir überlege das Abo zu holen. Auf der anderen Seite fahre ich wahrscheinlich billiger wenn ich ihn mir nur dann hole, wenn ich die vorige Ausgabe durchgelesen habe, was u.U. eben länger als sieben Tage dauern kann.
Im Gegenzug habe ich mich heimlich, still und leise von einem anderen Abo verabschiedet. Eine Art Mahnung in Sachen "Usability", wie man es nicht machen soll: "
Create Online".
dogfood-Leser die schon etwas länger dabei sind, wissen dass ich die Zeitschrift vor zwei Jahren abgöttisch verehrt habe. Der geneigte Leser dürfte auch mitbekommen haben, dass in der allgemeinen Misere der Zeitschriftenverlage und Auflagenzahlen, auch die Create Online Federn lassen musste. Sowohl inhaltlich als auch vom Design. Meine Verhältnis zur CO war also nicht ganz ohne Sollbruchstellen.
Irgendwann im Oktober schneite per Post ein Brief vom Verlag rein. Das CO-Abo würde im März auslaufen und mit beiliegendem Coupon könne man es verlängern. "Aha, schön", sagte ich mir, "März, das ist ja quasi noch ein halbes Jahr hin" und legte den Brief erstmal weg.
Am 30.12. schneite dann ein weiterer Brief vom Verlag rein, datiert vom 16.12.. Man bat mich nochmals mit beiliegendem Coupon das Abo zu verlängern, da dass Angebot in "zwei Wochen" auslaufen würde.
Wiewohl ich nun eine gewisse Dringlichkeit erkannte, hat mich der Brief überfordert. Wie jetzt? Zwei Wochen? Zwei Wochen vom 16.12. an gerechnet, also bis zum Jahresende? Oder zwei Wochen ab Erhalt des Briefes? Was würde passieren wenn ich den Coupon später einsenden würde? Müßte ich mehr bezahlen?
Und überhaupt der Coupon! Der war falsch bedruckt und enthielt bei den Ankreuzfeldern ("Verlängerung um 1 Jahr" "2 Jahre" etc...) statt einer Preisangabe nur die Platzhalterzeichen "£££".
Ich sinnierte zehn Minuten lang "wie denn jetzt", "und überhaupt" und "soll ich überhaupt". An dem Punkt wurde mir bewusst, dass ich die Zeitschrift vermutlich mehr aus Bequemlichkeit als aus Überzeugung weiterabonniert hätte. Auch wenn die Geschäfte derzeit besser laufen, hatte ich keine Lust ca. 80,- EUR für etwas auszugeben, was ich nicht wirklich haben will. Und ich ließ das Abo auslaufen...
Hätte "Future Publishing" den ganzen Verlängerungsvorgang "smoother" gestaltet, ich wäre gar nicht ins Grübeln gekommen. Schlechte Usability hat also diesem Abo das Genick gebrochen. Wobei man sagen muß dass ein expliziter Verlängerungscoupon zum Aboende mir die immer noch sympatischere Methode ist, als die automatische Verlängerung wie sie hier in Deutschland üblich ist.
Mal sehen, vielleicht mach ich 2004 wieder ein CO-Abo.
[11h16] Der gestrige Abend war geprägt von der schweren Entscheidung
DFB-Pokalspiel Bayern - Köln oder chinesische Dokumentarfilme. Die Waage neigte sich zugunsten der Dokus als ich erfuhr dass das Spiel in München stattfand. Und als Elber dann nach nur 5 oder 9 Minuten, gegen 20h40 das 1:0 für Bayern schoß, war die Entscheidung für mich klar und ich verließ fluchtartig die ARD. Auch unter diesem Aspekt eine korrekte Entscheidung, denn zur Halbzeit lag Bayern 4:0 vorne und am Ende sprang ein 8:0-Sieg heraus. Nicht unbedingt meine Definition von spannendem Fußballabend. Und ich frage mich wieviele erzlangweilige Pokalspiele ARD und ZDF noch übertragen wollen bevor ihnen auffällt dass dieses auch von den Einschaltquoten her, keine Sau interessiert. Heute abend gibt es 1860 - Bochum. Uh? Come on! Wenn in Deutschland außer den zwei Millionen Einwohner beider Städte interessiert den sowas?
Die Entscheidung für den
ARTE-Themenabend war auch aus einem anderen Grund richtig. Der Themenabend war schlichweg interessant.
Es gab drei kürzere Dokumentarfilme. Der erste war "Das Geheimnis meines Erfolges". Im Mittelpunkt steht Herr Lu, der in einem kleinen Dorf mitten auf dem Land für die Geburtenkontrolle zuständig ist. Als eine Art Blockwart beobachtet er die Frauen und propagiert Verhütungsmittel bzw. Abtreibungen. Eine Frau die bereits zwei Töchter ausgetragen hat, verschwindet plötzlich, und der Dorfrat ist besorgt. Allen Anschein nach ist die Frau zum dritten Mal schwanger, was in China unter der aktuellen Firmenpolitik ein absolutes No-No ist. Diese Geburt würde darüberhinaus auch die Geburtsstatistik versauen und damit die Funktionärskarrieren.
Zweiter Kernpunkt des Filmes ist die Ablösung der Bürgermeisterin. Als ein eklatanter Fall von Unterschalgung ruchbar wird, wird für die anstehenden Bürgermeisterwahlen (ja, es gibt anscheinend auf kommunaler Ebene recht freie Wahlen in China) ein Gegenkandidat aufgestellt und unser umtriebiger Herr Lu ist eine Art Wahlkampfmanager.
Herr Lu kommt trotz seiner Blockwart-Funktion durchaus als Sympath rüber, als sympathisches Schlitzohr. Doch so nett er sein mag. Die Umsetzung der Ein-Kind-Familien-Politik schnürt einem schon so ein bißchen die Kehle zu. Als die verschwundene Frau mit einem Sohn zurückkehrt, wird gnadenlos abgestraft. Nur mit einer Geldstrafe, aber die scheint ziemlich heftig ausgefallen zu sein. Zudem war zwischen den Zeilen auch deutlich herauszuhören dass auch Verwandte in Sippenhaft genommen werden und z.B. mit Prämienabzügen bestraft werden. Und wohlgemerkt: Herr Lu war die nette Variante eines Geburtenkontrolleurs. Nicht auszudenken was bei anderen Kontrolleuren passiert. Kaum zu glauben dass es nur bei finanziellen Bestrafungen bleibt... BTW: Es war immer wieder von Abtreibung, Eierstöcke-durchschneiden und Diaphragma die Rede. Nicht hingegen von Kondomen oder Samenleiter-durchtrennen...
Der zweite Schwerpunkt des Filmes, die Wahl, hatte etwas skuriiles an sich, der Kontrast zwischen "alt" und "neu".
Das ganze fand mitten in der Walachei statt, eine Gegend die mich an Ostfriesland minus Meer und Deiche erinnerte. So provinziell das war, trotzdem liefen die Leute mit Handys durch die Gegend.
Die Bewohner hatten offensichtlich Probleme mit den Basics bei den Wahlen ("Nein, du darfst nur einmal wählen gehen", "Nein, ohne Vollmacht darfst du nicht für deine Frau wählen"). Auf der anderen Seite hat Herr Lu eine Wahlorganisation aufgezogen, die keinen Vergleich mit den USA zu scheuen braucht. Tage vor der Wahl lieh man sich den einzigen VW-Bus in der Gegend aus, um den entlegeneren Bauern einen Besuch abzustatten und zu einer Art Briefwahl zu motivieren. Am Wahltag wurden dann Motorräder organisiert, die die Wähler von zu Hause abholen und zur Wahlurne der fünf Wahlbezirke bringen sollten.
Die Stimmen wurden per Hand in der örtlichen Schule ausgezählt. Für jeden Kandidaten wurde ein Strich auf der Tafel gemacht. Anders als in Europa macht man für einen Fünferblock nicht vier senkrechte Striche und dann einen horizontalen Strich. Vielmehr sieht ein Fünferblock wie ein "E" aus. Erst der obere Querstrich, dann in der Mitte einen senkrechten Struch runter (es erinnert nun an ein "T"), dann links daneben einen weiteren senkrechten Strich. Als vierter Strich ein Querstrich in der Mitte und abschließend ein Querstrich unten. Fertig ist das "E".
"Xiaos langer Marsch" ist ein zu kurz geratener Dokumentarfilm wie ein 18jähriger, arbeitsloser Tunichtgut sich freiwillig für die Volksarmee meldet.
Als Ausländer ist man schon fassungslos gegenüber der Sprüche der Propaganda-Offiziere die ausziehen und versuchen Rekruten für die Armee zu gewinnen. Bis hin zu den Sprüchen dass China die Rakete erfunden hätte (Sylvester-Böller ja, Weltraumfahrt nein) und Chinas Armee weltweit führend in Sachen Weltraumfahrt wäre. Bei den Amerikanern würden viele Unglücke passieren, die haben bei der Explosion einer Ariane-Rakete (sic!) sogar eine ganze Besatzung verloren.
Nachdem die Armee den Rekruten-Anwärter gründlich durchleuchtet hat (Falungong-Mitglieder irgendwo in der Verwandtschaft sind Ausschluß-Grund), tritt Xiao seine Grundausbildung an. Die Essenz dieser Ausbildung mag man schon aus diversen Filmstreifen in der US-Variante kennen, aber bei den Chinesen scheint es noch um einiges härter zuzugehen.
Gleich am ersten Tag wird das "Strammstehen" auf dem Kasernenhof bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt geübt. Jedes Körperteil wird von zwei Ausbildern (einer vor und einer hinter den Rekruten) milimetergenau ausgerichtet. Es wird zwar nicht gesagt wie lange die Rekruten in dieser Stellung ausharren müssen. Aber als der Befehl kommt in die Hocke zu gehen, können viele Rekruten nicht mehr ohne fremde Hilfe die Knie beugen...
Der Film war leider zu kurz um die Programmankündigung wahr zu machen und den Wandel von Xiao zum fertigen Soldaten zu zeigen.
Der dritte Dokumentarfilm "Bahnhof der Illusionen" war der beste der drei gezeigten. Insbesondere die Personen im Film waren so unglaublich gut, dass ich mich phasenweise fragte ob ich es mit einem Spielfilm zu tun hatte.
Im Zentrum des Filmes stehen Herr Fu und Herr Liu die als Bahnhofsvorsteher auf dem größten chinesischen Bahnhof in Zhengzhou.
Zhengzhou ist im östlichen Zentralchina. Eine mäßig große Stadt (1,4 Mio) aber anscheinend ein Verkehrsknotenpunkt. Alleine am Neujahrsabend müssen 1,2 Millionen Fahrgäste durch den Bahnhof durchgeschleust werden.
Jeder kennt die klassischen Szenen aus Japan, wo in der U-Bahn von Tokyio Menschen durch Aufseher in die U-Bahnen reingepresst werden. Forget it angesichts der sich dort abspielenden Szenen. Wenn ein Zug einfährt, setzen sich plötzlich Massen von 500-1000 Leute in Gang, rennen auf den Bahnsteig und pressen sich in den Zug so wie ich es noch nie, absolut nie gesehen habe. Man versucht gar nicht erst durch die Tür einzusteigen, sondern klettert in die Fenster rein. Alle, ausnahmslos alle, egal ob Mann, Frau oder Kind. Selbst achtzigjährige Mütterchen werden hochgehoben und durch das Fenster in das Abteil reingepresst. In dem Augenblick wo ich dachte: jetzt ist Ende, da passen nicht noch mehr Leute ins Abteil, kommt eine dreiköpfige Familie. Die Frau schreit dass sie da nicht mehr reinpasst. Aus dem Fenster brüllt das Abteil dass kein Platz mehr ist, doch der Vater nimmt den kleinen Sohn, drückt in durch das offene Fenster rein, nimmt das Gepäck, presst es rein, dann die Frau, und irgendwie drückt er sich als letztes mit rein. Ich habe so etwas noch nie gesehen.
Das Ganze geschieht unter unglaublicher Hektik, denn der Zug hat nur ca. 5 Minuten Aufenthalt und die Bahnhofsvorsteher achten streng auf Pünktlichkeit.
Der Bahnhofsvorplatz ist immens, ungefähr zwei oder dreimal so groß wie der Alexanderplatz und an Feiertagen wie den Neujahrstag voll mit Menschen. Da passiert es schon mal dass Säuglinge ausgesetzt werden. Ein unbekannter Mann bittet eine Frau den Kleinen, gerade neun Monate alt, mal kurz festzuhalten und verschwindet. Die Frau gibt den Kleinen mit den großen herz- und steinerweichenden Kulleraugen dem Bahnhofspersonal um sich dann selber schnell aus dem Staub zu machen. Das Bahnhofspersonal berät was zu machen ist, schließlich hat man für solche Fälle keine Anweisungen. Man handelt "praktikabel", ruft einen Gemüsehändler von der Straße. Der zeigt Interesse an dem Kind. Nach Ausfüllen eines anscheinend Quittung-ähnlichen Formulars, wird der Kleine im gelben Strampelanzug dem Gemüsehändler übergeben.
Trotz dieser Extreme, im Mittelpunkt des Filmes stehen Herr Fu und Herr Liu. Einer sympatischer als der andere. Herr Liu erfüllt sich seinen Lebenstraum und kauft ein eigenes Appartment und kann endlich aus dem ärmeren Viertel ausziehen. Dabei gehen seine Ersparnisse drauf und er verschuldet sich im überschaubaren Maße. Liu, der so aussieht wie Jackie Chan wenn er nicht Kampfsportler geworden wäre, rechnet aber nicht mit der Wirtschaftskrise die auch das China Anno 2002 erfasst. Sein Job ist am wackeln und seine Frau die in einem Kino arbeitet, steht kurz vor der Entlassung. Am Ende des Films ist es wahrscheinlich dass Herr Liu das Apartment verkaufen muss, da ihm die Schulden über den Kopf wachsen.
Noch sympatischer ist Herr Fu. Herr Fu kommt mir irgendwie als Geistesverwandter von mir vor. Still, aber witzig. Intelligent, aber ambitionslos. So sehr er auch in sich ruhen mag, es gibt doch einige wunde Punkte in seinem Leben die sich vorallen rund um Frauen kreisen. Seine erste Frau stirbt bei einer Abtreibung aufgrund eines Kunstfehlers. Offensichtlich hat er mit dieser beziehung noch keinen Frieden gefunden und bricht am Todestag weinend am Grab zusammen, das irgendwo am Rande eines mit Kräutern und Blumen zugewachsenen Ackers zu liegen scheint. Seine aktuele Beziehung wiederum, scheint keine große Lust zu haben die Beziehung durch eine Heirat zu formalisieren.
Beide, Herr Fu und Herr Liu, haben im Film eine unglaubliche Präsenz. Mit jeder Geste, mit jedem Gesichtsausdruck, mit jedem Dialog werden locker zehn weitere Hollywood-Mimen an die Wand geschmettert. Dass der Dokumentarfilm nur knapp eine Stunde dauert, ist umso entsetzlicher, denn man mag sich nicht von den beiden trennen wollen.
Alle drei Dokumentarfilme werden am nächsten Montag (10.2.) ab 14h30 auf ARTE wiederholt ("Bahnhof der Illusionen" um 16h00)