[02h27] Zuerst kam der Zusammenbruch des Hamburger ÖPNVs und dann der Zusammenbruch meines Orientierungssinns...
Aus einer Laune heraus bin ich Richtung Osten aufgebrochen. Ich hatte auf dem Stadtplan mir 1-2 Seen in Reinbek, knapp außerhalb Hamburgs, ausgeguckt, wo ich mir dachte das es recht angenehm wäre da mal abends spazieren zu gehen.
Die Rechnung hatte ich nicht ohne den HVV gemacht. Ein Stellwerkproblem in Altona legte die gesamte S-Bahn-Trasse zwischen Altona und Dammtor lahm. Ich musst also von Sternschanze aus erst wieder dei U3 nehmen um zum Hauptbahnhof zu kommen, und dann dort sehen wie die S21 fuhren. Und die fuhren wiederum unregelmäßig, da sie am Hauptbahnhof wenden mussten, statt nach Altona bzw. Sternschanze durchzufahren.
Es war auf dem Hauptbahnhof zum Erbrechen voll. Nicht nur das der Sommerdom war, der HSV sein erstes Heimspiel hatte, die Leute bei gutem Wetter in der Stadt bummeln waren. Nein, es waren ja auch bereits die Vorbereitungen zu den Cyclassics in der Innenstadt im Gange. Dann noch einige ausgefallene S-Bahn-Züge und das Chaos auf dem Bahnsteig war perfekt.
So war ich dann auch erst sehr viel später mit der S21 unterwegs raus aus Hamburg.
Im Hauptbahnhof schlug ich einen Teil der Zeit mit der glorreichen Idee tot, nicht einmal im Kreis rund um Reinbek herumzulaufen, sondern zwei Stationen weiter bis nach Aumühle und dann der Bille nach bis Reinbek oder gar Bergedorf laufen.
In Aumühle noch einmal einen kurzen Blick auf den Stadtplan in der S-Bahnhaltestelle geworfen (ich hatte nur Getränke und Essen mit) und dann gemäß Gedächnis und Orientierungssinn losgelaufen.
Der Fluß schlängelte sich durch den Wald, der Pfad folgte dem Geschlängel. Es ging wild bergauf und bergab. Zahlreiche umgeknickte Bäume. Der Fluß, 5-10m breit, hatte sich manchmal zehn Meter tief eingefressen, mit entsprechend scharfen Kanten am Wegesrand. Ich folgte einem Trampelpfad mit der Markierung "1" und "3".
Und dann kam die Stelle an der mein Orientierungssinn versagte und der Abend eine andere Richtung als geplant nahm, im wahrsten Sinne des Wortes.
Ich hatte mich auf dem Stadtplan verguckt, und ging davon aus dass ich von Aumühle bis Reinbek durchgäng an der Bille entlang marschiere. Der Pfad verließ einmal kurz den Fluß und kehrte an einer Stelle wo plötzlich drei Flußarme waren. Wohin sollte ich gehen? Da ich meinen Weg für recht zentral und bedeutend hielt, dachte ich mir, es müsste der Pfad mit der Markierung "1" sein.
Weit gefehlt. Ich bin in Aumühle die ganze Zeit der "Schwarzen Aue" und nicht der "Bille" von Ost nach West gefolgt. Bis auf dem Flußnamen korrekt. Die "Kreuzung" war der Zusammenfluß von der Schwarze Aue in die Bille. Die Bille floß weiter Richtung Westen. Der Pfad "1" führte aber die Bille flußaufwärts, damit nach Norden und damit in die falsche Richtung.
Um eine etwas längere Geschichte abzukürzen (es gab einen weiteren Irrtum meinerseits), gemerkt habe ich es 6km später(!) als ich die A24 Hamburg-Berlin überquerte.
Okay, also folgte ich der Straßenbeschilderung Richtung Reinbek. 5,8km to go. Ich ging die Landstraße entlang und verfluchte alle Autofahrer die mir mit Abblendlicht entgegenkamen (es war schon dunkel). Nach 5,8km kam dan eine Kreuzung. nach links ging es Richtung "Stadtmitte", es konnte also nicht mehr weit bis zur S-Bahn sein.
Hmmm. Mich machte allerdings sehr schnell stutzig daß ich Reinbek als eher schmale Stadt in Erinnerung hatte. Als ich nach fünf Minuten keine S-Bahn-Brücke passiert hatte, wusste ich das was faul war, zumal die "Stadtmitte" sich dann auch in einer Beschilderung von "Sporthalle", "Tennishalle" und "Grundschule" erschöpfte.
Oh danke, deutsche Straßenbeschilderung. Wie ich inzwischen weiß war dieser Ort nicht Reinbek, sondern "Neuschönnigstedt zu Reinbek". Der wird zwar entfernungstechnisch den Autofahrern als Reinbek verkauft, ist aber legere vier Kilometer (vierzig Fussminuten) nördlich.
Um dann auch diese Geschichte abzukürzen: nach einiger Zeit fand sich dann auch eine Bushaltestelle mit Stadtplan und mir wurde zum ersten Mal gewahr wie weit ich überhaupt vom Weg weg war. Ich hatte keine Uhr und in der Gegend gab es auch keine Fußgänger, ich ahnte aber, dass es knapp werden würde für die letzten S- bzw. U-Bahnen, daher machte es keinen Sinn noch Reinbek anzusteuern, sondern Bergedorf oder Billstedt. Beides gleich weit weg, Billstedt schien mir cleverer zu sein, weil vielleicht etwas mehr Nachtbusse dort losfuhren. Ich war dann "etwas" (ähem) später in Billstedt, 609er-Nachtbus fuhr alle 15 Minuten und nach umsteigen auf dem Rathausmarkt in den 604er, bin ich seit halb drei zuhause.
Kein Handy, keine Uhr, keinen Stadtplan. Soll man nicht machen, aber es ist Teil des Thrills. Wenn man sich nicht auf sowas einlässt, wird man nur das zu sehen bekommen, was man erwartet hat.
Ich bin teilweise kleine landwirtschaftliche Straßen in der untergehenden Sonne gegangen, völlig überwältig vom Geruch frisch gemähten Getreides. Ich habe mich wie bei meinen Großeltern in Frankreich gefühlt. Selbst nach einer halben Stunde konnte ich den Duft noch riechen, nichts mit der Gewöhnung der Nase. Libellen so lang wie eine Hand. Ein Gezirpe der Grillen am Wegesrand, als gäbe es kein Morgen mehr. Aus der Ferne hörte man Motorengeräusche von Mähdreschern.
Die Pfade waren teilweise recht eng. Ich habe mich gefragt wie häufig jemand einen Weg laufen muss, damit die Natur zurückweicht, das Gras ausgetreten ist und die Bäume und Äste zurückweichen. So ein Weg ist eigentlich neutral. Man sieht ihm sein Alter nicht an. Wer weiß, vielleicht bin ich auf der einstigen Wikinger-Autobahn Hamburg-Rostock gelatscht...
Man kommt durch Orte die "Forellenau" oder "Büchsenschinken" heißen.
Groß ist das Sicherheitsbedürfnis der Menschen. Alles, selbst in der entlegensten Walachei, muss eingezäunt werden. Selbst das piffigste Gatter wird mit einem Schild "Privat! Nicht betreten" versehen.
Und es ging natürlich nicht ohne: an einer Stelle wo eine Straße an der Bille angrenzten, standen zwei mittelalte Männer, vielleicht Taxifahrer, mit dem Rücken zum Weg und pissten sich erstmal ihre Diabetes aus den Nieren.