[09h35] Eins -- Endlich. Gestern, als ich eine Rechnung zum Briefkasten trug. Aus der Garageneinfahrt klang schon dieses höllische, blecherne Rollen. Ein Vierzigjähriger mit grauer Mähne kam, mit gewisser debiler Freude und weiten Schwüngen. Rechts von mir, neben dem Bürgersteig, eine 7cm tiefergelegte Asphaltfläche, auf meiner Höhe noch mit einer Asphaltrampe zum runterrollen versehen.
Freudig schepperte er weiter in großen Bögen und rollte vor mir die Rampe runter, um die große Freifläche Asphalt auszunutzen und sich richtig in die Kurven zu legen, während das Kratzen der kleinen Rollen sich überall in der Lippmannstraße zu reflektieren schienen. Ein weiter Bogen nach links, sozusagen vor mir wegfahren, vom Asphalt wieder auf den Bürgersteig wollend.
Nur dass dort keine Rampe mehr war. Sondern ein 7cm hohe Kante.
Es war nicht so sehr der Aufprall der laut war, sondern die plötzliche Abwesenheit des Schepperns und Knirschen, die Stille, während drei Meter vor mir, lautlos, ein Vierzigjähriger mit grauer Miene und debilem Ausdruck versuchte seinen Sturz aufzufangen.
Das elende Kickboard lag drei Meter hinter ihm, an der Kante hängen geblieben.
Ich ging an ihm vorbei, als er versuchte sich und das Kickboard wieder in Gang zu setzen. Ich hörte aber kein Scheppern, kein Kratzen und kein Knirschen. Ein Kickboard weniger auf der Welt.
Zwei -- Das Büro im obersten Stockwerk geht mit seiner Fensterseite zum Hinterhof hinaus. Die gegenüberliegende Wand ist eine Milchglaswand zum Flur hin. Dort laufen mitunter Gestalten von und zu Yoga-Kursen. meistens weiblich, meistens mit irgendeiner zusammengerollter Matte unterm Arm geklemmt. Meistens jung. Milchglas lässt einigen Spielraum zu um in eine verhuschten Gestalt etwas hinein zu interpretieren.
Spätestens wenn man aber an einem kalten März-Abend im Treppenhaus den komplett in Thermojacken Zugeschnürten entgegenkommt, deren Gesichter und Nasen mit vor Kälte aufgeplatzten Äderchen überzogen sind, wie weiland eine Strassenkarte von Sibirien, ist der verbliebene Interpretationsspielraum auf Null reduziert.
Drei -- Auch eine Sache des Interpretationspielraumes. Im Eckhaus daneben, ist eine Model-Agentur („Kader-Schmiede“ Harharhar, Big Brother-Wortspiel). Schickes Interieur, mit iMacs, neonfarb-transluzenten Klembrettern, designten Weibsvolk auf der einen Seite des Tisches, gegelte Jungherren auf der anderen Seite des Tisches. Nicht plump, nicht aufdringlich, nicht aggressiv.
Doch all das Schick-Sein bringt nix, wenn um zwanzig nach sieben, nach Feierabend, noch im Büro gesessen wird, das schwarze Hemd aus der Hose gesteckt wird und vermutlich vom letzten Klogang noch so ungeschickt verdreht ist, dass man zuerst glaubt, dieser Jungherr würde bauchfrei tragen. Der Schock kommt beim zweiten Blick. Es ist nicht nur unfreiwillig bauchfrei. Es sind auch die Würste und Wülste die über dem Hosenbund hängen und der Model-Agentur den letzten Hauch von Unnahbarkeit genommen haben.
Vier -- Die Sonne geht derzeit gegen halb sieben unter und bei dem derzeit klaren Hamburger Winterhimmel ist es ein leises Farbspektakel von Gelb über Orange über Grün, Blau und Dunkelblau hin.
Ich war gestern gegen Halb sieben zu Fuß unterwegs. Zufällig im Zickzack gen Westen, immerwieder dem Sonnenuntergang entgegen. Ich ging den Paulsen Platz entlang. Ein 50x50m großer Platz mit Park und Spielplatz, inmitten einer Wohngegend, ohne Verkehr.
Ich ging auf der Westseite des Platzes, rechts von mir Altbaufassade. Ich blickte zur anderen Seite des Platzes, zu den Häusern auf der östlichen Seite. An der Ecke statt ein relative junges Haus, mit glatter, heller Fassade in Weiß oder Hellgrau gestrichen. Es war dem Schein des Sonnenunterganges ausgesetzt und bekam einen hellblauen, illuminierten Schein. Es schien zu strahlen. Die Wirkung war umso stärker, weil es vor dem bereits dunklen Nachthimmel stand und über ihm der recht volle Mond aufgegangen war.
Ich muss in solchen Momenten immer an die Sterbeszene von Roy, dem Androiden (Rutger Hauer) aus Bladerunner denken. Es müssen eben nicht nur die Sternenneben des Orions sein.
Roy: I've seen things you people wouldn't believe. Attack ships on fire off the shoulder of Orion. I watched C-beams glitter in the dark near the Tannhauser gate. All those moments will be lost in time, like tears in rain. Time to die.