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Comic: „My Heroes have always been Junkies“

Cover „My Heroes have always been Junkies“

Ed Brubaker schreibt seit den 90er Jahren Comics. Nach dem er sich lange Jahre an Superhelden abarbeitete (u.a. bei Marvel für den grandiosen „Winter Soldier“-Zyklus bei Captain America und einem nicht minder grandiosen Daredevil-Zyklus verantwortlich), ist Brubaker seit drei Jahren in einer Position, in der sich auf sein Lieblingsgenre konzentrieren kann: Crime Comics – mehr die Noir-Richtung als „der Plot nimmt eine überraschende Wendung für eine Schlusspointe“.

Die Ich-Erzählerin der Story ist Ellie, roundabout 20 Jahre alt. In der Eingangsszene steht sie am Strand und blickt ins Meer. Auf der letzten Seite werden wir sie wieder gen Meer blickend, sehen. Dazwischen liegt der Plot, erzählt in Rückblenden.

Ellie ist in einer teuren privaten Entziehungsklinik, wo sie im Gesprächskreis einen gleichaltrigen jungen Typen, Skip kennen lernt. Er flirtet, sie flirtet. Nach Einbruch der Dunkelheit klopft Ellie ans Fenster von Skips Klinikzimmer und bietet Menthol-Zigaretten an, geklaut aus dem Zimmer der Anstaltsdirektorin.

Ellies Story wird von weiteren Rückblenden durchbrochen, in der Episoden aus ihrer Kindheit auftauchen. Ellie hat eine brutale Kindheit gehabt: Vater im Gefängnis, Mutter Diebin und drogenabhängig. Mutter stirbt früh und sie wächst bei einem anderen Mann auf.

Drogen sind der rote Faden in Ellies Leben. Es ist nicht so sehr der eigene Drogenkonsum, über den wir nicht viel erfahren, sondern die Prägung durch die Mutter. Die Mutter stirbt zwar früh, aber die Musik ist aus der Zeit übrig geblieben. Für Ellie werden Musik und Drogen eins. Billie Holidays „Carnegie Hall“-Album wecken bei ihr Erinnerungen, wie ihre Mutter dieses Album hört und dabei traurig aus dem Fenster blickt. Holiday, von ihren Dämonen gejagt und an Drogen verreckt – wie ihre Mutter. Als Kind liest sie sich in etliche Drogen-Storys von Musikern ein, will im Joshua Tree Inn mit ihrem Stiefvater in Zimmer #8 schlafen, weil dort Gram Parsons starb.

Die neckische Story zwischen Ellie und Skip besitzt eine unschuldige Leichtigkeit. Doch die Rückblenden aus ihrer Kindheit hängen wie ein schwerer Schatten über Ellie.

Der weitere Plot ist banal. Die Zeichen sind früh zu deuten. Doch die Story des Buchs ist nicht der Plot – sondern Ellie. Es kommt, wie es kommen muss. Doch trotz der Vorhersehbarkeit und der Kürze des Buches (72 Seiten) nimmt einem das Schicksal von Ellie mit. Eigentlich möchte man weiter bei Ellie bleiben.

Der Comic steht auf zwei kraftvollen Säule: die bedrückenden Fetzen aus Ellies Kindheit und die Zeichnungen von Sean Phillips. Sean Phillips zeichnet sehr statisch. Jedes Bild wirkt wie ein Photo. Die Bilder leben durch Komposition – und die Gesichter. Das Mienenspiel überstrahlt alles, inklusive kleinere Unsicherheiten in Gesten und Körperproportionen. Der komplette Comic lässt sich auch ausschließlich anhand der Gesichter erleben – was für eine emotional derart schwere Story eine Kunst ist.

Es muss auch das Coloring von Seans Bruder Jacob erwähnt werden, dass sehr frei neben dem Inking von Sean co-existiert und den Zeichnungen eine weitere Ebene gibt. Mehr über das Coloring von Sean Phillips‘ Zeichnungen gibt es in einem achtminütigen YouTube-Video von „Strip Panel Naked“.

Der Plot wird von Ellies Lebensgeschichte in den Hintergrund gerückt. Wenn man sich darauf einlässt, lässt einem Ellie nicht mehr los. Das dies auf nur 72 Seiten passiert, ist Brubaker und Phillips hoch anzurechnen.

5 von 5 Sternen.

Buch „The Artificial Man and Other Stories“ von Clare Winger Harris

Buchcover „The Artificial Man and Other Stories“
Clare Winger Harris ist die erste weibliche US-SF-Autorin, die unter eigenen Namen veröffentlichte. Alle ihre Kurzgeschichten, zwischen 1926 und 1930 geschrieben, sind in diesem Buch versammelt.

85 Jahre später, wirkt es komisch, was alles als Fortschritt und Erfindungen für die kommenden Jahrhunderte beschrieben worden ist. Obwohl die weltweit erste TV-Station bereits 1928 on air ging, hat Winger Harris keine Ahnung von der schnellen Verbreitung dieses visuellen Massenmediums gehabt. Viele Kommunikationsgebahren in ihren Stories sind stattdessen deutlich vom Rundfunk geprägt. Während Weltraumfahrt bis zum Neptun kein Problem ist, werden Fernsehübertragungen erst im 24ten Jahrhundert erfunden.

Winger Harris scheint auch recht fest von Leben auf dem Mars und der Venus auszugehen – gleich Ausgangspunkt mehrerer Kurzgeschichten.

Der Schreibstil ist dem Zeitalter gemäß, altbacken und distanziert. Die Personen sind unnahbar und schablonenhafte Charaktere.

Die Geschichten haben im Zentrum meistens eine Idee oder ein Gedankenspiel, die mal mehr, mal weniger spannend ausgeführt werden. Es sind teilweise recht abstrakte (oder abstruse?) Ideen, wie die Veränderung des Aggregatzustand des Universums.

Wo es heute noch Berührungspunkte gibt, wird es schnell spannend. Zuvorderst „The Ape Cycle”, das auch als Inspiration für “Planet of the Apes” dienen könnte und genauso wie “Planet of the Apes” auch als Allegorie auf die vergangene Sklavenhaltung verstanden werden könnte – von Winger Harris aber so straight geschrieben, dass ich mir nicht sicher bin, ob ihr diese Doppeldeutigkeit auch bewusst war. “The Ape Cycle” verstärkte daher den Eindruck, dass man bei den Kurzstories gar nicht erst nach weiteren Deutungsebenen zu suchen braucht – es gibt schlichtweg keine.

In “The Miracle of the Lily” münden die Themen Ökologie und intensive Landwirtschaft für die Fleischproduktion in einen großen Krieg zwischen der Menschheit und den Insekten.

Doch selbst bei noch heute modernen Themen, wirkt die Ausführung der Stories 85 Jahre später, sehr altmodisch und überraschungsfrei. Was am Ende übrig bleibt, ist mit den Augen der Science-Fiction Ende der 20er Jahre auf die heutige Zeit zu schauen und zu merken wie weit wir gekommen – oder nicht gekommen sind.

Ich gehe erst einmal Wasserflaschen kaufen, um für den großen H2O-Diebstahls des ausgetrockneten Mars‘ gerüstet zu sein.

Zwei von fünf Sternen.

Buch „Resist: Tales from a Future Worth Fighting Against“

Science Fiction-Kurzgeschichtensammlung von Gary Whitta, Christie Yant und Hugh Howey.

Resist“ ist eine Sammlung von fast 30 Science Fiction-Kurzgeschichten von ebenso vielen Autoren mit dem Schwerpunkt dystopischer Zukunft. Die Einnahmen aus dem Verkauf gehen an einen gemeinnützigen, linksliberalen Verein in den USA, der ACLU.

Dystopische Zukunft“ ist das einzige, was diese Geschichten eint, die von völlig unterschiedlicher Qualität und „Schreibe“ sind. Es gibt im Gegensatz zu einer Kurzgeschichtensammlung eines einzigen Autors, keinen impliziten roten Faden, die eine zusätzliche Bedeutungsebene einzieht. Das Lesen durch so eine Sammlung gleicht dem Prinzip Fire and Forget. Auf einer Geschichte folgt die nächste, die mit der vorigen so ziemlich nichts zu tun hat – die Autoren/Autorinnen dieser Sammlung sind sehr heterogen zusammengestellt.

Es gibt Themenschwerpunkte, aber die Reihenfolge der Stories im Buch wirkt zufällig und streut Geschichten um Diktaturen, AI, Social Media/Social Networks, und Gender, wild durcheinander.

Nur oder immerhin knapp ein halbes Dutzend von Stories ist über die Halbwertszeit der 300 Seiten hinaus, haften geblieben. Zahlreiche Geschichten treten in die Kurzgeschichtenfalle: auf neun Seiten Exposition folgt eine Seite Schlusspointe.

Genau dies war das Problem mit dem ersten monotonen Drittel der Sammlung. Die festzementierten Erzählstrukturen wurden das erste Mal vom Comic-Szenaristen Kieron Gillen durchbrochen. In „The Arc Bends“ gibt es keine Schlusspointe, sondern eine Startpointe, mit der Gillen dann in irrwitziger Geschwindigkeit durch die Zeit rauscht.

Einige Geschichten ragen heraus, weil sie den Leser in einen Perspektivwechsel hinein bringen. Charlie Jane Anders schildert in „Horatius and Clodia“ den Versuch eine AI über Emotionen zu hacken – aus Perspektive der AI. „Catcall“ von Delilah S. Dawson lässt in der Ich-Perspektive eines aufwachsenden Mädchens den Alltags-Sexismus und die Veränderung der Person spüren.

Eine andere Form des Perspektivwechsels geschieht durch Sprache. Jason Arnopp in „The Nothing Men“ entwirft eine Zukunft die nur noch aus Social Media, Influencern, YouTubern und virtuellen Wellten besteht – aus der Perspektive eines aufstrebenden Influencers, in einer kalten, aggressive, menschenverachtenden Sprache, die aber aus der gleichen DNA besteht, die sich bereits heute in viel besuchten Foren und Kommentarsträngen auf YouTube oder Facebook lesen lässt.

Die gute, klassische Kurzgeschichte entwickelt in der Exposition ein Szenario, um dann elegant aus der Hintertür zu verschwinden und den Leser mit der impliziten Aufforderung des Weiterspinnens, alleine zu lassen – so wie der SF-Bestsellerautor John Scalzi in „The Tale of the Wicked“: kann AI eine Religion entwickeln? Wann wird das Streben nach gemeinsamen Zielen einer Gruppe, zur Religion? Zwei Geschichten später zeigt Laura Hudson in „The Well“ auf, wie Religion als Werkzeug für Diktaturen eingesetzt werden können – und Diktaturen auch als Werkzeug von Religion dienen können.

Wie man zu dieser Anthologie als Ganzes steht, ist eine Frage, inwieweit man willens ist, sich durch 27 Kurzgeschichten zu lesen, um eine Handvoll von Nuggets herauszufischen. Gerade in der Retrospektive, wenn die Erinnerungen an das harzige erste Buchdrittel verflogen ist, überwiegen die Gedanken an diese Nuggets. Aber das funktioniert auch nur mit Hilfe von Notizen und einem späteren Rückblick, um diese Nuggets herauszufischen.

Vier von fünf Sternen.

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