[22h02] Heute abend sah ich ihn wieder.
Es war vor ungefähr einer Woche. Einer jener Morgen an denen der Weg zur Arbeit routiniert zurückgelegt wird. Der Bus kommt an, man geht durch die Fußgängerzone, am Spritzenplatz rechts runter, auf die linke Seite der Bahrenfelder Straße. Irgendwas gegen halb neun, irgendwas zwischen hell und dunkel, irgendwas zwischen kalt und nicht ganz so kalt. Die Läden bereiten sich auf den Tag vor. Waren werden in den „Schlecker“ reingebracht, in der frisch in Weiß und Holz renovierten Apotheke wird hinter den halboffenen Rolläden mit dem Staubsauger gefuhrwerkt.
Die einen gehen rauf, die anderen kommen einem entgegen. Die Dreissigjährige die mit jedem Schritt ihre hochhackigen Stiefel in den Bürgersteig rammt und ein sehr verschloßenes Gesicht zeigt. Die Visage ist so angespannt, dass mit jedem Schritt die Gesichtsmuskeln zwei, drei Mal nachwackeln. Fast sieht so aus, als würde Madame das Gesicht noch stärker anspannen wollen um nicht den Hauch von Bewegung zu erlauben und damit möglicherweise etwas über sich zu sagen. Irgendwo an der Wange wird wahrscheinlich gleich die Haut aufreißen.
Kurz vor dem Alma-Wartenberg-Platz gibt es eine kleine türkische Ecke, mit der Spielhölle rechterseits, einem Kiosk und Hochzeitskleider linkerdings. Die Leute vor mir drehen den Kopf kurz nach rechts. Auf der anderen Seite, direkt am Pfahl mit dem Zebrastreifenschild, sitzt, bei knapp über Null Grad, ein alter Mann im Schneidersitz, mit einem Kasten vor sich, den ich irgendwie als Radio wahrnehme. Der Mann scheint Türke zu sein, etwas dunklere Haut, graue Bartstoppeln, so ein typisch-türkischer Schnäuzer. Seine stark eingefallenen Wangen und die Art wie er seine Oberlippe einklemmt, zeigen dass er keine Zähne mehr hat. Ein dunkelgrauer, abgewetzter Hut. Er sagt kein Wort, sitzt fast regungslos da. Die Leute nehmen nicht sehr viel mehr wahr, als eine kleine Kopfbewegung abseits des Weges hergibt.
Als ich am Nachmittag aus der anderen Richtung am Zebrastreifen vorbei komme, ist er wieder da. Diesmal steht er wankend an der Ecke der kleinen Boutique mit dem Ausverkauf. Im Zehn-Sekunden-Abstand gröhlt er irgend etwas unverständliches. Hält dabei irgendwas hoch. Ich weiß nicht ob es eine Flasche, das Radio oder irgendetwas anderes ist. Man hält ihn für einen besoffenen Vollidioten und versucht ihn auffällig unauffällig zu ignorieren.
Heute abend war er am Spritzenplatz, dort wo der kleine Weihnachtsmarkt beginnt. Er saß auf einer Decke, wieder im Schneidersitz, und spielte Musik. Laut und heftig. Vor mir gehen drei junge, dunkelhaarige Mädchen mit roten Mäntel und betrachten ihn kichernd.
Es ist scheißkalt, dankenswerterweise habe ich meine Wollmütze auf. Quer durch den Weihnachtsmarkt plärrt eine Musik durch die andere durch. Vor der weihnachtlichen Asia-Imbiß-Bude steht eine eingemummelte Frau mit aufgerissenen Augen und innerem Kampf. Als ich an ihr vorbeigehe, gibt sie sich einen Ruck und schreitet zur Bude, sich mit einer Schale Natriumglutamat-Nudeln die Weihnachtsdiät versauen wollend. Das Gezeter zu Weihnachten ist absehbar. Natürlich wieder viel zu viel gefressen. Nicht in die Klamotten passend, nicht in die hochhackigen Stiefel passend. der Freund wird wahrscheinlich ein Stück Bauchrolle zwischen Daumen und Zeigefinger nehmen und mit ironischen Bemerkung die Saat für Bulemie und „Brigitte“-Diät säen, während in der „TV-Spielfilm“ auf dem Wohnzimmertisch vielleicht das Gesicht Kylie Minogue prangt, dank Photoshop-Retuschen ohne Pferdegebiß, ohne die zwei Pickel links und rechts vom Kinn und ohne die kleinen Falten die das Gesicht durchziehen und der Fernsehkamera verraten, dass auch an Frau Minogue die fünfzehn Jahre seit meines Zivildienstes und der Hoch-Zeit von Stock-Aitken-Waterman, nicht spurlos vorübergegangen ist.
Abgehalfterte Mutter zerrt das Kind quer durch den Weihnachtsmarkt, während 3-4 Schritte dahinter der junge Vater genauso zeternd wie angetrunken im Zickzack versucht mitzuhalten.
Aus der großen Weihnachts-Würstchenbude klingt 08/15-R'n'B-Musik, während hinter der Bude Peruaner aufspielen. Die Peruaner haben aufgerüstet und alles ist noch schlimmer geworden. Wo einst Horden von Inkas mit Flöten und Trommeln einem folkloristisch auf die Nüsse gingen, reichen nun drei Stück aus, damit es einem sämtliche Gedärme zusammenzieht. Die vor einem Jahrzehnt in Deutschlands Fußgängerzonen abgeknöpfte Kohle wurde in Elektronik investiert. Flöte an Verstärker geflanscht, Synthi, fertig ist New-Age-Schrott. Andreas Vollenweider hoch drei. Wenn die in Peru alle so'ne Musik spielen, ist es kein Wunder, dass die die ganze Zeit auf Koka-Blättern rumlutschen.
Gleich bin ich durch gelaufen. Rechts ist noch der afghanische Waffelstand, in dem Mutter und Tochter auf Kunden warten. Auf Kunden denen es ähnlich wie mir ergeht, denen es nicht gelingt, den Zauber der in deutschen Waffeleisen produzierten „afghanischen Waffeln“ zu erfassen. Irgendwas muss Hamid Karzai falsch gemacht haben, dass die „afghanische Waffel“ noch nicht zu Weltruhm gekommen ist. Millionen von deutschen Steuergeldern die zwischen Berlin und Kabul versickern und die nun den afghanischen Waffelexporten fehlen. Die beiden Waffelschieber im Büdchen machen jedenfalls einen eher frustrierten Eindruck. Da haben wir was gemeinsam.
[09h09] Im Büro angekommen, packe ich die Sachen aus, schließe PowerBook an, starte Schreibtischrechner, packe Großtasse und Cappuccino und schlürfe zur Küchenecke eins. Wie ich drei Minuten später träge zurückschlürfe, fällt mir an der Art des Schlürfens auf: dies ist das typische träge
Schlürfen von jemanden der noch gar nicht wach ist, Und ich frage mich, was ich die letzten anderthalb Stunden gemacht habe, in denen ich mich wach wähnte.
Nachklapp zu gestern abend. Insbesondere das zweite Football-Spiel war so wie ich es erwartet hatte: Schneesturm über Boston, das Spielfeld freigeräumt aber in den Rängen lag der Schnee minimum einen halben Meter hoch. Hinter den Endzonen türmten sich zehn Meter hohe Schneeberge. Ein Traum.
Das Spiel war, wie erwartet, spannend. Beide Erzfeinde kämpften um Playoff-Plätze. Als kurz vor Schluß der Heimmannschaft durch eine Aktion die Spielentscheidung gelang, gab es auf den Rängen kein Halten mehr. Überall schossen Schneefontainen hoch. Mehrere zehntausend Menschen im ganzen Stadion schmissen Schnee senkrecht hoch in die Lust. Ein unglaubliches Panorama. Es sah wie ein weißes Miniatur-Feuerwerk aus. Und es ging minutenlang so weiter. Ein Gejohle und Gekreische, mir jagte es einen kalten Schauer nach dem anderen runter. Ma', ich will auch endlich wieder ordentlich Schnee! Die MinusNullKommaZwo Grad sind nur ein kleiner Schritt dorthin.
Und für die Experten unter uns: wenn ich dann noch das Oakland-Spiel vor zwei Jahren einbeziehe, stelle ich fest: Foxboro rules. Was, bitte schön, ist „Frozen Tundra“ Lambeau-Field dagegen?