Was im Juli begann, setzte sich im August fort. Auf der Suche, ohne zu wissen, nach was. Wer es von außen betrachtet, wird mit Sympathien feststellen, dass viele Dinge angepackt werden. Aber aus der Binnensicht fühlt es sich statisch an, weil sich an der Gefühlslage nichts ändert. Eine Frage der Perspektive.
Das Highlight war das erste August-Wochenende. Ich bekam den Tipp, dass in der Kunststätte Bossard ein Freiluft-Aktzeichnen-Seminar stattfinden würde.
Ein kleiner Einschub: ich bin eigentlich gelernter Illustrator. Fachhochschule Hamburg, Fachbereich Gestaltung, Studiengang Illustrator, 1996 mit Diplom abgeschlossen.
Aber aus dem Illustratoren-Job bin ich raus. Seit der Jahrtausendwende hatte sich der Schwerpunkt in Richtung Web/Frontend-Entwicklung verlagert und meinen letzten Illustrationsjob dürfte ich 2006 im Rahmen von Phasenzeichnungen für eine Kinder-CD-ROM gemacht haben. Danach quasi nicht mehr einen Zeichenstift angefasst – also je nach Rechnung, 15 bis 30 Jahre aus dem Illustrations-Thema raus, raus, raus.
Und verlernt, wie ich bei meinen vereinzelten Zeichen-Versuchen in den letzten Monaten festgestellt hat – und das tut ziemlich weh.
Da ich sowieso versuche, mich wieder dem Zeichnen anzunähern, passten zwei Tage Aktzeichnen. Und zwei Tage Lüneburger Heide passten zu meinem Verlangen, aus meinem Trott auszubrechen und neue Impulse zu bekommen.
Ich buchte kurzfristig ein Zimmer in einem Gasthaus am Rand der Heide für ein Wochenendurlaub, buchte den Kurs und meldete mich dann am Freitagmittag vom Job ab.
Nach dem mein „Bahnhofsrad“ im Juli schlapp machte und meine Radfahrten immer ausschweifender wurden, habe ich Ende Juli ein neues Rad beim lokalen Dealer gekauft. Am ersten August-Wochenende besuchte ich wieder die Freundin in Neugraben. 36km hin, 38km zurück. Feuertaufe bestanden.
Es zeichnete sich ab, dass das Wochenende in der Heide eines jener 33º C-Wochenende werden würde. Am Donnerstag hatte eine Freundin die Idee, dass ein Sonnenhut für so eine Fahrt cleverer als meine gewohnte Cap wäre. Der Sonnenhut ist luftiger, schützt die Augen genauso vor der Sonne und aufgrund der Krempe, schützt sie auch den Nacken. Leider war der entsprechende Hut bei Globetrotter ausverkauft, aber eine Suche nach der Marke, ergab, dass der Hut auch im Online-Shop von Peek & Cloppenburg erhältlich war und diese einen Overnight-Versand bis 12 Uhr am nächsten Tag boten – am Freitag um neun Uhr hielt ich den Hut in den Händen. Es gibt nicht viel was mich freute, aber das hat mich gefreut und der Hut hat sich als so praktisch erwiesen. Ich bin ein sehr großer Fan geworden.
Am Freitagmorgen wollte ich mir schnell die Route zum Gasthof aufschreiben, merkte aber, dass dies immer mehr eskalierte. Ich schrieb zwar weiter meine drei DIN-A4-Zettel mit den Routen von Hamburg nach Sahrendorf, Sahrendorf zur Kunststätte und von der Kunststätte nach Hamburg auf.
Aber „sicherheitshalber“ kaufte ich auch das App-Paket von Naviki für das iPhone. In der Tat. Es hat nur zwei Kilometer in Harburg gebraucht, bis ich von der Zettelwirtschaft so entnervt war, dass ich mir einen Ohrstöpsel ins Ohr steckte und Naviki mir die Richtungsanweisungen aufs Ohr sprechen ließ … was überraschend gut funktionierte, nein, was eine großartige Vereinfachung für die Tour darstellte. Und auch meine Befürchtung, dass die Navigation, Sprachausgabe und GPS mein Handyakku binnen einer Stunde leer lutschen würden, erwies sich als unbegründet.
Die erste Etappe war noch gewohntes Terrain: 12,6Km von Langenhorn meine übliche Strecke gen Innenstadt: Sengelmannstraße, Rathenaustraße und ab da die Fahrradstraße Leinpfad und Harvesterhuder Weg/Alsterufer. Fontenay rechts ab, zum Dammtor-Bahnhof, der nicht so überlaufen wie der Hauptbahnhof ist, und daher IMHO fahrradkompatibler – insbesondere wenn ich an die Fahrstühle denke.
Dann mit der S31 bis Harburg gefahren und ca. 20 Minuten gebraucht, um im Harburger Bahnhof an der Stelle rauszukommen, wo ich rauskommen wollte.
Die Strecke von Harburg nach Sahrendorf, an den Rand der Heide, ist eine „Frankensteinstrecke“, die ich mir nach Input von Naviki, OpenStreetMap, Google Maps und HERE selber zusammengestellt habe und mit der ich fette Bundesstraßen vermeiden wollte.
Die Rechnung mit den fetten Bundesstraßen ging nur so halb auf. Den erkauft man sich mit dem Nachteil, dass die Kreisstraßen teilweise Radwege habe, die alle zwei Meter von irgendeiner Baumwurzel hochgeworfen wurden.
Hinter Stelle wurde mir klar, dass ich ein Thema so gar nicht auf dem Schirm hatte. Ich war zwar nicht in den Alpen unterwegs, aber der gewohnte flache Stadtteppich war das auch nicht gerade. Es ging rauf und runter. Nichts was sich nicht im ersten oder zweiten Gang nehmen ließ, aber hatte ich so in dieser Ausprägung nicht erwartet (durchschnittlicher Puls während der 130 Minuten: 136bpm)
In Buchwedel fuhr ich ein längeres Stück durch Nadelwälder und atmete die harzreiche Luft ein, als wäre ich in der Aquitaine. Eigentlich war ich schon längst im roten Bereich und griff zu jenem Dopingmittel, dass ich mir eigentlich für die Rückfahrt aufbewahrt hatte: Brausehaltige Kaubonbons.
In Brackel, außen rum statt durch das Dorf gefahren und dafür auf einem Feld gleich vier Störche gesehen.
Je näher man der Heide kam, desto besser wurden die Radwege an den Straßen. Doch dann hinter Hanstedt der strategische Fehler: statt auf der Kreisstraße zu bleiben, hatte ich einen Abzweig über einen „idyllischen“ Weg durch einen Wald und entlang einer Aue geplant. Vier fucking Kilometer Schotterpiste bergauf und bergab und an Reitern vorbei.
In Ollsen wieder zurück auf die Kreisstraße und das so typische Bild in der Heide: entweder du kriechst im ersten Gang den Hügel rauf oder du rollst geschmeidig im achten Gang das Gefälle runter.
In Sahrendorf angekommen, waren meine Eier tot, meine Füße abgestorben und meine anderthalb Liter Wasservorräte aufgebraucht.
Das Gasthaus, Studtmanns Gasthof, lag in einem Funkloch. Das war… eine interessante Erfahrung, Internet & Co nur nach langwierigen Einloggen ins Hotel-WLAN zu haben und sonst keine Telefonate oder WhatsApp zu bekommen. Der Gasthof ist sehr einfach eingerichtet gewesen, aber das Preisleistungsverhältnis, inklusive Frühstück, stimmte.
Sahrendorf liegt direkt am Rand der Heide. Vom Gasthof aus, kann man nach Westen Richtung Undeloh abbiegen und befindet sich drei Schritte später veritabel in der Heide. Entsprechend viel „Pferdeverkehr“ gab es. Als Stadtmensch war ich durchaus angetan, morgens vom Pferdegewieher und -geklapper aufzuwachen. Die Natur ist toll, aber ohne Auto ist Sahrendorf für einen längeren Urlaub etwas diffizil. Hanstedt, 6km und zwei Anhöhen entfernt, ist die nächste Stadt mit einem größeren Einkaufsangebot. Die Fahrt willste bei 30º C nicht zweimal am Tag machen müssen.
Am nächsten Morgen ging es mit dem Rad vom Gasthof zur Kunststätte – in der „Westvariante“ wieder den Hügel gen Ollsen rauf, dann links in den Wald gen Heide rein. Die Strecke hatte mich dann kalt erwischt: mit Beginn des Waldes hinter Ollsen, stieß ich unvorbereitet auf eine lange steile Steigung und am ersten Tag konnte ich nicht mehr und musste die letzten 300 Meter absteigen. Am zweiten Tag war ich vorbereitet und konnte mich dann, besser eingeteilt, auch rauf quälen.
Die Strecke bestand überwiegend aus Wald- und Heidegebieten – die Heide fing gerade zu blühen an. Was die Strecke unangenehm machte: Dreiviertel der Strecke bestanden aus Schotterpiste. Zwar waren davon ca. 4–5km Abfahrten, aber selbst die Abfahrten waren anstrengend, da du immer den Lenker halten, Stöße abfedern und das Gleichgewicht wahren musst.
Am Sonntagnachmittag dann meine große Challenge. Nach dem ich am Freitag, abgesehen von einer Unterbrechung mit S-Bahn-Fahrt, erstmals 50 Km quasi am Stück gefahren bin, sollte es nun von der Kunststätte, südlich von Jesteburg, direkt nach Hause gehen – über Harburg, Berliner Tor und Sierichstraße.
Die Strecke war diesmal etwas näher am Vorschlag von Naviki dran und ich scheute mich aufgrund der Audio-Navigation auch nicht vor, den Zick-Zack-Kurs insbesondere in der Annäherung nach Harburg zu nehmen.
Während die Hinfahrt eine sehr „grüne“ Fahrt entlang von Bächen, Seen, durch Wälder und an Feldern entlang war, fühlte sich die Rückfahrt eher wie eine Fahrt durch den Hamburger Speckgürtel an. Jesteburg, Klecken, Waldesruh, da ist schon die eine oder an Unze in Immobilien versenkt worden.
Auf der anderen Seite fährste in Harburg zum ersten Mal durch Wilstorf und glaubst du würdest durch Altona oder Veddel fahren.
Ab Harburg ging es auf bekanntes Terrain. Wat freu‘ ich mich, wenn sie endlich die Veloroute an der Kornweide entlang der alten Wilhelmsburger Reichsstraße durchschleifen. Dann hast du 5,5 Km feinste Fahrradautobahn am Stück.
25 Kilometer bis Harburg. 28 Kilometer zwischen Harburg und Langenhorn. Macht 53 Kilometer am Stück (in 184 Minuten) und ein neuer persönlicher Bestwert. Der Preis: wunde Eier, taube Füße und erst einmal dreißig Minuten abduschen.