„Panel Syndicate“ wurde vor einigen Jahren als ein eBook-Verlag von Comic-Autoren und -Zeichner gegründet. Zwei Besonderheiten zeichnen den Verlag aus. Es gibt keinen Verkaufspreis für die kopierschutzfreien eBooks, sondern eine „Name your price“-Politik – zahle was du willst. Und der Verlag scheint konsequent auf ein displayfreundliches Querformat, statt dem vom Papier gewohnten Hochformat zu setzen.
„The Walking Dead: The Alien“ ist eine Story aus dem Walking Dead-Kosmos, angesiedelt in Barcelona.
„The Alien“ steht dabei nicht für „Außerirdischer“, sondern für den „Fremden“, Jeff, einen Ex-Studenten aus den USA, der mit Aushilfsjobs durch die Welt tingelt und beim Ausbruch Quarantäne in Barcelona gestrandet ist.
Jeff gerät in Zombie-Kalamitäten ehe ihn die heimische Claudia da raus rettet. Claudia und Jeff beschließen, aus Barcelona zu flüchten.
Robert Kirkman, Erfinder von „Walking Dead“ sowie die an der Walking Dead-Franchise beteiligten Verlage haben ihr Placet für diese inoffizielle Erweiterung von Walking Dead gegeben.
Es ist von Marcos Marin sehr angenehm gezeichnet. Brian K. Vaughan zieht die Story sehr straight durch (allerdings empfand ich Panel 11 als merkwürdig sexistischen Ausrutscher in einem sonst sehr souveränen Comic).
Marin gibt dem Comic eine gute Textur – sowohl was das katalanische Flair angeht, als auch das schönes Spiel mit Schwarz-Weiß bzw positiven und negativen Flächen. Interessant ist das Layout. Bei manchen Panel-Aufteilungen hatte ich das Gefühl, dass sie im Querformat aufgrund der sehr viel längeren horizontalen Strecken nicht so funktionieren, wie im Hochformat.
Wenn es denn etwas gibt, was man dem Comic ankreiden kann, dann ist es die Atemlosigkeit in Zeichnung und Story. Auf nur 32 Seiten (inkl. Nachwort und Skizzen) bekommt die Atmo wenig Raum zur Entfaltung und entwickelt daher nicht die Wucht, die in ihr drin steckt. Der Comic verkauft sich damit unter Potential. Aber Vaughan und Marin sind in meinem Radar angekommen.
Es ist das was es ist: ein kurzer, höchstprofessioneller One-Shot zu einem Preis, den man selbst wählen kann. Man wird unterhalten, aber der Comic ist zu kurz um einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen.
Dies ist ein nur 23 Seiten langer Comic, entstanden nach einer Kurzgeschichte von Ray Bradbury von 1950 „The Long Rain“.
Der Tipp auf den Comic ist über eine Empfehlung von Kieron Gillen reingekommen. Artyom Topilin (T: @artyomtopilin, I: artyomtopilin) ist ein Zeichner u.a. aus dem Superhelden-Umfeld, den ich bislang nicht kannte. Da der Comic auch auf russisch erschienen ist, liegt es nahe, dass Topilin mindestens russischer Abstammung ist.
Das passt auch ganz gut zur Kurzgeschichte von Ray Bradbury, über eine Gruppe von Raumfahrern, die auf einem Planeten gestrandet sind, auf dem es seit tausenden von Jahren ununterbrochen regnet. Die Raumfahrer sind auf der Suche nach einer Basis, wo sie Unterschlupf finden können.
Die Kurzgeschichte hat jene Tonalität, die man auch von etlichen osteuropäischen SF-Filmen kennt: sehr introvertiert, melancholisch, düster und die Grenzen zwischen Realität und Irrsinn sind fließend.
Topilin liefert auf den nur 23 Seiten eine eigenständige Interpretation der Bradbury‘schen Geschichte, die vollends überzeugt – sowohl in der Ästhetik, als auch in der Erfindung des Settings. Der Kurz-Comic kann über Gumroad als eBook (PDF) gekauft werden.
4 von 5 Sternen.
P.S.: Gumroad wird mir als Plattform für Comics immer sympathischer. Nicht dass sie technologisch besonders herausragend wäre. Aber sie erfüllt ihren Zweck u.a. Comic-Zeichner*innen eine Bezahlplattform für verschiedene Formate zu geben: Kurzgeschichten, Skizzen, eigenständiger Vertrieb längerer Comic-Geschichten. Es senkt die Hemmschwelle von „Link im Newsletter“ bis zum Kauf des Comics. Das ist gut. Auch gut: Gumroad gibt die Möglichkeit, über den Mindestpreis hinaus, noch mehr on the top zu bezahlen.
Ich habe keine Ahnung wer Andi Watson ist (Wikipedia). Kieron Gillen hat vor einigen Wochen in seinem Newsletter hingewiesen, das Watson einen Teil seines Back-Catalogues als eBooks auf Gumroad selber vertreibt und Gillen ist geschmackssicher genug, dass man als Neugieriger mal einen Blick darauf werfen sollte.
Geisha (1998)
„Geisha“ nimmt als Zutaten einige bekannte SF-Motive um daraus, sowohl inhaltlich, als auch zeichnerisch, etwas eigenes zu schaffen. Geisha ist eine junge Androidin, die von ihrem „Vater“ wie ein normales Mädchen groß gezogen wurde und daher, wie ein normales Mädchen, sehr menschlich wirkt. Geisha will Künstlerin werden. Aber als Androidin wird ihre Kunst nicht für voll genommen. Die Einkommenssituation ist eher karg. Daher arbeitet sie in der Securityfirma ihres Vaters als Bodyguard und soll ein weltbekanntes Mannequin beschützen.
Die Zeichnungen sind eine Fusion von Asien und Europa. Aus der Manga-Welt erkennt man das dynamische Seitenlayout wieder, so wie einige Tricks, wie eine hohe Zeichengeschwindigkeit erreicht wird: Fokussierung auf Dialoge und Menschen bzw. Gesichter. Hintergründe werden nur sparsam eingestreut. Der Sprung zu einem europäischen Strich geschieht dank der Manga-Zeichensprache, die versucht, sich auf das Essentielle zu konzentrieren, aber von Watson mit Hilfe des Pinsels? Feder? Leben und Individualität eingehaucht bekommt.
Was sich hier schon andeutet, ist eine der Stärken von Andi Watson: trotz der zeichnerischen Reduktion, die Gesichter der Protagonisten sprechen zu lassen.
Dass mich Geisha trotzdem nicht geflasht hat, lag am Setting und der damit verbundenen Erwartungshaltung. So effizient Watsons Strich ist, seine Stories sind eher „geschwätzig“ statt straight und strukturiert. Das SF-Setting wirkt, nicht nur zeichnerisch, wie überflüssiges Beiwerk. Der Konflikt von Geisha als Android, also Kunstmenschen und Geisha als Malerin, also Kunst-Mensch, verliert sich in der allgemeinen Geschwätzigkeit des Comics. Dem Comic wäre nicht sehr viel abgegangen, wenn man ihn in der heutigen Zeit hätte spielen lassen. Diese Beliebigkeit zeigt das Manko des Comics auf.
„Geisha“ von Andi Watson, bei Andicomics/Gumroad als eBook erhältlich (149 Seiten, 1,50 Pfund)
3 von 5 Sternen.
Love Fights (Volume One & Two, 2003)
Und was bei Geisha nicht geklappt hat, hat bei „Love Fights“ auf 328 Seiten wunderbar geklappt. Die Geschwätzigkeit und Unstrukturiertheit ist geblieben. Wir ham‘ auch wieder Science-Fiction. Aber statt der Frage nach Kunst von Kunstmenschen, gibt es eine Romantic Comedy als Screwball-Komödie im Superhelden-Millieu. Hier passt die Tonalität zum Genre.
Es spielt in einer Welt, in der Superhelden zum Alltag gehören, inklusive ihrer medialen Vermarktung in TV, Film und Gossip-Magazinen. Superhelden-Comics sind in dieser Welt Dokumentationen wahrer Begebenheiten.
Jack ist Comic-Zeichner von „The Flamer“, einem zunehmend unhippen Superhelden. Bei einer Zufallsbegegnung verknallt er sich in Nora, Assistentin bei einem Gossip-Blatt. Nora wittert ihre Chance zum beruflichen Aufstieg, als sie an einem Scoop dran ist: der Flamer hat bei einem Seitensprung ein Kind mit Superheldenkräften gezeugt.
Damit ist ein roter Faden vorgeben, der quer durch den Comic Auslöser für eine Zahl von Intrigen und irrwitzigen Zwischenfällen und Beziehungskrisen sorgt, als wäre es eine Hollywood-Komödie von Billy Wilder – mit der gleichen Sogkraft habe ich den Comic verschlungen.
Ähnlich wie sich das Storyhandling gegenüber Geisha weiter entwickelt hat, wirken die Zeichnungen von Andi Watson in Love Fights noch mehr auf den Punkt gebracht. Der Strich noch reduzierter. Die Meisterschaft mit einem Minimum an Strichen die unterschiedlichsten Charaktere zu zeichnen, ist großartig. Es ist erstaunlich, wie wenig man braucht, um eine Figur mit Wiedererkennungswert auszustatten. Vor allem im zweiten Band hat sich Watson sowas von eingroovt in seine Figuren, dass seine Zeichnungen nur so vor Selbstsicherheit sprühen. Mimik und Gestik sind auf den Punkt.
Einer etwaigen Monotonie entkommt er durch den Einsatz von drei Grundfarben und unterschiedlichen Texturen bei den Strichen und Flächen.
Die beiden eBooks strotzen nur so Spielfreude. Watson hat Spaß am Sujet und seinen Protagonisten gehabt. Das merkt man den Zeichnungen und der Story an. Dabei ist eine Kreuzung entstanden, die einzigartig ist.
„Love Fights“ von Andi Watson, bei Andicomics/Gumroad als eBook. Zwei Bände (je 164 Seiten). Je Band 1,50 Pfund.
„Peter Cannon: Thunderbolt“ (PC-T) ist eine fünf Hefte umfassende Storyline von Gillen und Wijngaard (Hardcover-TPB erscheint Januar 2020).
Drei Anmerkungen zum Einstieg:
Die Storyline funktioniert nur als Ganzes. Es macht keinen Sinn, die Hefte einzeln zu betrachten.
Zum Genuss der vollen Dimension (no pun indended) der Storyline sollte man „The Watchmen“ von Alan Moore/Dave Gibbons kennen
Man beraubt sich der Hälfte des Spaßes, wenn man nicht die korrekte Anordnung der Doppelseiten hat. In der Comixology-Variante sind die falschen Seitenpaare als Doppelseite zusammengebündelt und man muss sich auf dem iPad mit dem Finger behelfen, um jeweils die richtigen Seitenpaare auf dem Screen zu haben.
Peter Cannon gehörte zum Superhelden-Kanon des Verlages Charlton Comics. Moore/Gibbons wollten 1986 ursprünglich Charlton-Superhelden für DCs „Watchmen“ verwenden. Doch DC, zwischenzeitlich im Besitz der Charlton-Lizenzen, wollte die Figuren nicht dafür freigeben. Moore/Gibbons mussten sich neue Figuren ausdenken und nahm u.a. Peter Cannon als Vorlage für Ozymandias.
Der Ausgangspunkt von PC-T ist eine Übernahme des „Watchmen“-Plots: eine vorgetäuschte Invasion von Außerirdischen. Diese übermächtige Schein-Bedrohung soll die zerstrittene Welt einen und damit für Wohlstand und Frieden sorgen. Cannon erkennt anhand des Studiums von alten Schriftrollen, dass der Drahtzieher niemand anderes als er selbst ist: ein Peter Cannon („Thunderbolt“) in einer Parallelwelt. Cannon geht mit Superhelden-Kollegen auf die Reise durch die Dimensionen.
Ohne „The Watchmen“ zu kennen, bekommt man eine Story, die clever mit Comic-Stereotypen und gestalterischen Formalitäten spielt. Weil Story, Layout, Zeichnung, Kolorierung und Lettering so clever ineinander spielen, bekommt man bereits auf dieser ersten Ebene, ein gutes Paket zusammengeschnürt. Inhaltlich dürften er/sie/es aber ähnlich ratlos davor stehen, wie vor den ersten Bänden von Grant Morrisons „Doom Patrol“.
Beim Versuch sich PC-T anzunähern, passiert schnell das, was im Englischen als „going down the rabbit hole“ bezeichnet wird – man steigt immer tiefer ein, entdeckt immer Neues und sucht nach immer mehr Anspielungen und Metaphern.
Gillen spielt mit dem Medium. Das ist zuvorderst bei den Zeichnungen zu erkennen. Die Grenze zwischen Medium und Leser*in, die „Fourth Wall“, wird aufgehoben.
Die folgende Doppelseite zeigt wie fünf Superhelden und Cannon am Boden liegen, innerhalb von aufgemalten Bodenmarkierungen, bevor sie die Reise durch die Parallelwelten antreten. Die sechs Superhelden angeordnet wie auf sechs Panels, die wiederum Bestandteil eines Panels werden, welches Thunderbolt um die Ohren fliegt.
Wie PC-T auf einer Doppelseite mit dem 9-Panel-Raster spielt
Die Superkraft mit der Cannon sich und seine Kompagnons durch die unterschiedlichen Parallelwelten bringt, ist der „Formalismus“ (yep, I shit you not). Bei dem Einsatz von „Formalismus“, durchbricht Gillen/Cannon den Comic-Formalismus des strengen Layout-Rasters und wechselt die Zeichenstile.
Eine Doppelseite mit der Reise durch Parallelwelten. Mit sechs Zellen eines 9-Panel-Rasters durch ein 9-Panel-Raster fliegen
Das strenge Layout-Raster in eines der Erkennungsmerkmale von „The Watchmen“, welches fast komplett in einem 9-Panel-Seitenraster gezeichnet ist.
Klassisches 9-Panel-Raster von Watchmen
Wo in Watchmen Ozymandias vor einer Monitorwand sitzt, wird in PC-T die Monitorwand selber zum 9-Panel-Raster und es ist Thunderbolt, der dieses Raster durchbricht.
Ozymandias vor einer MonitorwandThunderbolt, außerhalb des 9-Panel-Rasters, vor seiner Monitorwand
Man kann es als grundsätzliche Prämisse von PC-T bezeichnen, dem Medium Comic anhand von „ Watchmen“ den Spiegel vor zuhalten – „Watchmen“, im gleichen Jahr wie Frank Millers „The Dark Knight Returns“ erschienen und markiert mit Dark Knight einen Meilenstein in der US-Comic- und Superhelden-Landschaft.
Gillens PC-T zollt Watchmen nicht nur seinen Tribut. Das ganze Spiel mit der Superkraft „Formalismus“ ist auch eine Aufforderung, sich durch Watchmen die nächsten Fesseln auferlegen zu lassen. Und so wechseln sich in der Storyline Anspielungen auf Watchmen mit der bewussten Antithese ab.
Letzte Bildzeile in „Watchmen“: „I leave it entirely in your hands…“ sagt der Redakteur zum Verschwörungstheoretiker, der in die Leserpost greift, wo u.a. die explosiven Tagebuchaufzeichnungen von „Rorschach“ liegenVorletzte Seite von „Peter Cannon: Thunderbolt“: „I leave it entirely in your hands…“ sagt Cannon nach dem Kuss.
Thunderbolt ist in PC-T zwar eine Variante von Peter Cannon in seiner eigenen Dimension und seine Kleidung erinnert stark an Watchmens Ozymandias. Aber Thunderbolts Palast mit seiner Uhrmechanik-Ästhetik und das Symbol auf seiner Stirn, erinnern eher an Watchmens blauen Dr. Manhattan.
Thunderbolt und sein PalastDr. Manhattan brennt sich sein „Atom“-Symbol auf die StirnDr. Manhattans Uhrwerks-Palast auf seinem Mars-Exil
Gillen und Wijngaard übernehmen nicht nur Bildelemente, sondern gleich ganze Bildzitate. Der Rausschmiss von Peter Cannon durch Peter Cannon/Thunderbolt ist eine komprimierte Version der legendären Bildsequenz zu Beginn der Watchmen, als der Watchmen Edward Blake/The Comedian aus seinem Penthouse geschmissen wird und zu Tode stürzt.
Der Sturz von Peter Cannon in einer 5-Panel-Sequenz. Die drei Panels, verteilt auf einer Seite, mit dem Todessturz von Edward Blake
Etliche Seiten später ist auch das Pendant, die Rückkehr von Peter Cannon, ein Bildzitat. Diesmal sogar mit identischer Panelaufteilung und ähnlichen oder gleichen Panel-Inhalten, wie das Pendant von Watchmen, wo Rorschach in das Appartement von Edward Blake einsteigt, um zu seinem Tod zu ermitteln.
Peter Cannons Rückkehr und die Balance einerseits die Vorlage zu zitieren, andererseits den eigenen Zeichen- und Kolorierungsstil beizubehaltenGleiche Panelaufteilung 33 Jahre vorher, in Watchmen.
Etwas abstrakter wird die Formsprache von Watchmen Rorschach aufgegriffen – so benannt nach der Maske die er trägt und an den Rorschach-Test erinnert. Gillen/Wijngaard greifen die Formsprache von Rorschach-Muster auf ihrer Art auf…
Die Muster auf Rorschachs Maske sind stets in Bewegung, bleiben aber symetrisch.Ein Superheld weniger.
Teilweise werden auch nur kleine Handlungsmuster genommen, um an Watchmen zu erinnern, wie z.B. Rorschachs sadistischen Verhörmethoden…
Rorschach und seine Verhörmethoden zu Beginn von WatchmenThunderbolt: „Excess brutality – I invented it“ und schon geht der erste von zehn Fingern dahin.
So kopflastig PC-T konstruiert ist, so kann man sich schon an dem Offensichtlichen ergötzen: das ausgefeilte Layout, die Zeichnungen, die Kolorierung und das Lettering. Die Perfektion und die Sensibilität erschließt sich auch ohne das Wissen um die Meta-Ebene. Aber mit der Meta-Ebene, wird man ein zweites und ein drittes Mal zu PC-T zurückkehren, möglicherweise auch im Doppelpass mit „Watchmen“, um all die Seitenpfade zu entdecken und zu verstehen. Es ist wieder ein Computerspiel, dass man nach dem ersten Durchspielen, weitere Male spielt, um alle Nebenquests aufzulösen.
Ed Brubaker schreibt seit den 90er Jahren Comics. Nach dem er sich lange Jahre an Superhelden abarbeitete (u.a. bei Marvel für den grandiosen „Winter Soldier“-Zyklus bei Captain America und einem nicht minder grandiosen Daredevil-Zyklus verantwortlich), ist Brubaker seit drei Jahren in einer Position, in der sich auf sein Lieblingsgenre konzentrieren kann: Crime Comics – mehr die Noir-Richtung als „der Plot nimmt eine überraschende Wendung für eine Schlusspointe“.
Die Ich-Erzählerin der Story ist Ellie, roundabout 20 Jahre alt. In der Eingangsszene steht sie am Strand und blickt ins Meer. Auf der letzten Seite werden wir sie wieder gen Meer blickend, sehen. Dazwischen liegt der Plot, erzählt in Rückblenden.
Ellie ist in einer teuren privaten Entziehungsklinik, wo sie im Gesprächskreis einen gleichaltrigen jungen Typen, Skip kennen lernt. Er flirtet, sie flirtet. Nach Einbruch der Dunkelheit klopft Ellie ans Fenster von Skips Klinikzimmer und bietet Menthol-Zigaretten an, geklaut aus dem Zimmer der Anstaltsdirektorin.
Ellies Story wird von weiteren Rückblenden durchbrochen, in der Episoden aus ihrer Kindheit auftauchen. Ellie hat eine brutale Kindheit gehabt: Vater im Gefängnis, Mutter Diebin und drogenabhängig. Mutter stirbt früh und sie wächst bei einem anderen Mann auf.
Drogen sind der rote Faden in Ellies Leben. Es ist nicht so sehr der eigene Drogenkonsum, über den wir nicht viel erfahren, sondern die Prägung durch die Mutter. Die Mutter stirbt zwar früh, aber die Musik ist aus der Zeit übrig geblieben. Für Ellie werden Musik und Drogen eins. Billie Holidays „Carnegie Hall“-Album wecken bei ihr Erinnerungen, wie ihre Mutter dieses Album hört und dabei traurig aus dem Fenster blickt. Holiday, von ihren Dämonen gejagt und an Drogen verreckt – wie ihre Mutter. Als Kind liest sie sich in etliche Drogen-Storys von Musikern ein, will im Joshua Tree Inn mit ihrem Stiefvater in Zimmer #8 schlafen, weil dort Gram Parsons starb.
Die neckische Story zwischen Ellie und Skip besitzt eine unschuldige Leichtigkeit. Doch die Rückblenden aus ihrer Kindheit hängen wie ein schwerer Schatten über Ellie.
Der weitere Plot ist banal. Die Zeichen sind früh zu deuten. Doch die Story des Buchs ist nicht der Plot – sondern Ellie. Es kommt, wie es kommen muss. Doch trotz der Vorhersehbarkeit und der Kürze des Buches (72 Seiten) nimmt einem das Schicksal von Ellie mit. Eigentlich möchte man weiter bei Ellie bleiben.
Der Comic steht auf zwei kraftvollen Säule: die bedrückenden Fetzen aus Ellies Kindheit und die Zeichnungen von Sean Phillips. Sean Phillips zeichnet sehr statisch. Jedes Bild wirkt wie ein Photo. Die Bilder leben durch Komposition – und die Gesichter. Das Mienenspiel überstrahlt alles, inklusive kleinere Unsicherheiten in Gesten und Körperproportionen. Der komplette Comic lässt sich auch ausschließlich anhand der Gesichter erleben – was für eine emotional derart schwere Story eine Kunst ist.
Es muss auch das Coloring von Seans Bruder Jacob erwähnt werden, dass sehr frei neben dem Inking von Sean co-existiert und den Zeichnungen eine weitere Ebene gibt. Mehr über das Coloring von Sean Phillips‘ Zeichnungen gibt es in einem achtminütigen YouTube-Video von „Strip Panel Naked“.
Der Plot wird von Ellies Lebensgeschichte in den Hintergrund gerückt. Wenn man sich darauf einlässt, lässt einem Ellie nicht mehr los. Das dies auf nur 72 Seiten passiert, ist Brubaker und Phillips hoch anzurechnen.